München im Nationalsozialismus: der jüdische Patient.

Im Münchner Stadtbezirk Sendling-Westpark, zwischen dem Westpark und dem Alten- und Pflegestift Augustinum, da liegt Neufriedenheim. Ein Stadtteil, in dem heute junge Menschen im Erasmus-Grasser- und im Ludwigsgymnasium die Hochschulreife erlangen. Bis 2011 befand sich dort neben diesen beiden Bildungseinrichtungen auch noch die Landesgehörlosenschule, in einem geschichtsträchtigen Gebäude: die ab 1891 als psychiatrische Klinik und Nervenheilanstalt erbaute und bis 1942 betriebene „Heilanstalt Neufriedenheim“ mit ihrem dazugehörigen großen Kurpark.

Bis das Gebäude im 2. Weltkrieg stark beschädigt wurde, lebte dort bis zu seiner Deportation im September 1940 der psychisch kranke Moritz Bendit aus Fürth. 40 Jahre lang war der jüdische Kaufmann Insasse dieser Anstalt. Als Jude war der Patient im Nationalsozialismus doppelt stigmatisiert und wurde schließlich Opfer der Euthanasie-Morde im NS-Staat: mit 77 Jahren verlegte man ihn erst in die „Heil- und Pflegeanstalt“ nach Eglfing-Haar und von dort am 20. September in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz, gemeinsam mit 190 weiteren jüdischen Patientinnen und Patienten. Noch am Ankunftstag, dem 20. September, wurden sie im Rahmen der T4-Aktion der NS mit Kohlenmonoxid ermordet.

Fast 50 Jahre lang war der Psychiater Dr. Ernst Rehm der Direktor dieser – wie es damals hieß –  „Irrenanstalt“, arbeitete sowohl nach Freud als auch nach Adlerschen Grundsätzen. 1933 trat der gut betuchte und renommierte Arzt in die NSDAP ein. Nun hat Reinhard Lampe, Mathematiker, Archivar und Historiker, über Ernst Rehm und Neufriedenheim eine große Recherche vorgelegt:

„In der Darstellung von Reinhard Lampe verbindet sich die individuelle Leidensgeschichte von Moritz Bendit mit einer Institutionengeschichte der Münchner Kuranstalt Neufriedenheim und ihrem leitenden Arzt, dem Psychiater Ernst Rehm. Diese als Doppelbiografie zu lesende Studie enthüllt nicht nur die strukturellen Mechanismen von gesundheitspolitischer Marginalisierung, sondern macht durch die Erzählung der Lebens- und Verfolgungsgeschichte eines einzelnen Betroffenen die dramatische Dimension von rassistischer und mörderischer Ausgrenzung sichtbar.“

So der Münchner Historiker Andreas Häusler in seinem erhellenden Vorwort „NS-Herrschaftsdenken und Euthanasie“, das dem Band Moritz Bendit und die Kuranstalt Neufriedenheim voransteht. Erschienen in der Reihe „Studien zur jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern“ bei de Gruyter, 2024.

Unter den prominenteren Patienten der Kuranstalt Neufriedenheim waren neben Herzog Sigfried in Bayern, Oskar Panizza und Tilly Wedekind auch die Ingolstädter Schriftstellerin Marieluiese Fleißer. Eine Begegnung mit dem Insassen Moritz Bendit im Kurpark – wo heute die beiden Gymnasien stehen – beschreibt sie in ihrer Novelle „Die im Dunkeln“ aus dem Jahr 1965.

Das Gebäude der Anstalt mit seinen Nebengebäuden wurde bei einem Luftangriff 1942 schwer beschädigt. Erst Flüchtlings-Notunterkunft, dann Verwaltungsgebäude der US-Militärregierung, schließlich zog 1952 die Landestaubstummenanstalt (heute Bayerische Landesschule für Gehörlose) ein, das Gebäude wurde dazu umgebaut und im Bestand stark vereinfacht. Von 2011 bis Ende 2021 stand es leer, dann erfolgte der Abriss für den Neubau vom Bildungs-Campus Westpark.

Einladung zur Buchvorstellung am Dienstag, 20. Mai 2025 um 19 Uhr (bis 21 Uhr).

Ort: Juristische Bibliothek, Neues Rathaus, 3. OG, Raum 366, Marienplatz 8, 80331 München. Eintritt ist frei, Anmeldung erbeten unter juristische.bibliothek@muenchen.de oder telefonisch 089 233 772444. Bitte geben Sie bei der Anmeldung Ihren Wunsch nach Gebärdendolmetschen bekannt.

Eine Kooperation von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., RAG München, Public History, Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Stadtbibliothek München – Juristische Bibliothek im Rathaus.

Bitte beachten Sie, dass zum Zeitpunkt der Lesung das Rathaus nur noch über die Pforte (auf der Höhe des Fischbrunnens) betreten werden kann. Von dort an ist der Weg in die Bibliothek ausgeschildert.

Ablauf:

  • Begrüßung und Vorstellung der Reihe „Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern“ durch Mitherausgeber Dr. Andreas Heusler.
  • Einführung ins Thema durch Ilse Macek (Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.)
  • Autor Reinhard Lampe und Historikerin Dr. Sibylle von Tiedemann geben einen Einblick in wesentliche Aspekte des Buches und erläutern den historischen Kontext.
  • Julia Cortis liest Auszüge aus der Erzählung „Die im Dunkeln“ von Marieluise Fleißer: Eindrücke eines dreimonatigen Aufenthaltes als Patientin in der Kuranstalt Neufriedenheim 1938
  • Büchertisch des De Gruyter Wissenschaftsverlages im Anschluss an die Veranstaltung.

Rückblende: Haas, Hoffmann, Horn und Cortis in „Alten Resten eine Chance!“

Die Schauspielerin Julia Cortis und der Musiker Alex Haas (Unsere Lieblinge) pfeifen auf falsche Bescheidenheit, wenn sie für ihre neue Revue trommeln, in der sie – erhellend der Titel – „Alten Resten eine Chance“ geben, und das auch noch als „Weltpremiere“. Musikalisch wiederverwertet werden mehr als einhundert Jahre deutsche Kleinkunst, Kabarett und Schlagerparade von Friedrich Hollaender über Claire Waldoff und Bill Ramsey bis zu Element Of Crime. Unterstützung bekommen sie dabei vom Musiker Sinisa Horn und dem Kabarettisten Florian Hoffmann („Totales Bamberger Cabaret“).

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Vom Trauma zur Power: Laurie Halse Anderson

Sie ist eine lebhafte, empathische, humorvolle und unbeirrbare Autorin, die unter 251 Kandidaten für den diesjährigen Astrid Lindgren-Gedächtnispreis (ALMA) ausgewählt wurde: Laurie Halse Anderson. Am 2. Mai 2023 hat die US-Amerikanerin den hochdotierten Preis in Stockholm in Empfang genommen für ihr phantasievolles, einfühlsames, mutiges Schreiben im Geiste der 2002 gestorbenen Kinder- und Jugendbuchautorin. Weiterlesen

„Der vergessene Führer“ Alfred Hugenberg

Der Medienkonzern, der Hitler zur Macht verhalf.
4. Februar 2023 – 16 Uhr im NS-Dokumentationszentrum München

Filmvorführung, Lesung und Diskussion über Totalitarismus und Medienmacht mit Joachim Käppner (Süddeutsche Zeitung ), Peter Zimmermann (Bergische Universität Wuppertal) und Gabriele Hooffacker (Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig).

Der Münchner Dokumentarfilmer Peter Heller erzählt in seinem Film aus dem Jahr 1982 die faszinierende Geschichte eines Mannes, der anhand seines geschickt aufgebauten Zeitungs- und Filmimperiums die öffentliche Meinung in Großstädten genauso wie in der Provinz prägte wie kein anderer in der Zeit der Weimarer Republik: Alfred Hugenberg. Seine Zeitungen stellte er schon früh in den Dienst des Kampfes gegen die Weimarer Demokratie. Weiterlesen

Weibnachten mit Goethe

Vor 15 Jahren durfte ich zum ersten Mal die Stimme Goethes sein. Ihn zu vertonen, seine Gedichte zu verkörpern und in seine Figuren einzutauchen war mir seither jedes Jahr im Dezember eine Ehre. Der Goethe-Gesellschaft München und Weimar gebührt der Dank, denn ihre Mitglieder haben erkannt: Die Interpretation ist nicht auf Geschlechterkongruenz angewiesen. Im Gegenteil: eine weibliche Stimme kann Dichtung (und Wahrheit) eine zusätzliche Farbigkeit verleihen.

Nach all dieser Zeit (und zwei Dezemberpausen) stehen in diesem Jahr nun tatsächlich Goethes Frauenfiguren im Mittelpunkt. Ausgewählt und eingeordnet wie immer von Dr. Johannes John sprechen heuer Aurelie, Helena, Iphigenie, Philine und viele andere, natürlich auch das Gretchen bei der Weihnachtslesung, die innerhalb der Vortragsreihe „Konstellationen des Weiblichen in Goethes Dramen“ stattfindet. Töchter, Mütter, Nichten, Gattinnen, eine Wunderheilerin, eine Prinzessin, eine Artistin.

Die wunderbare Birgitta Eila ist auch wieder mit uns im Trio und bereichert das gesprochene Wort mit einer Mozartfantasie, Bachs Präludium und Fuge in B (BWV 866) und der F-Dur-Nocturne von Chopin.

Montag, 12. Dezember 2022 um 19 Uhr – Frauen und Liebe bei Goethe: LesungVortragKonzert in der Goethe-Gesellschaft, Amalienstraße 38, 80799 München. Eintritt 6,- Euro, keine Anmeldung erforderlich.

Foto: Ausschnitt aus einer Radierung von Wilhelm Busch (gesehen als Illustration bei Goethe – Epigramme Venedig 1790, dtv klassik 1989)