„Kultur hilft im Mittelmeer.“ Am 10. Juli 2023 organisierte die Koordinatorin des Helferkreises Tutzing, Claudia Steinke, einen Benefizabend für die Seenotrettung in der Starnberger Schlossberghalle und lud dazu Christian Springer, Angela Ascher und mich ein. Und natürlich Claus-Peter Reisch, der über die Arbeit der Sea-Eye berichtete:
Christian brachte Ausschnitte aus seinem Programm, Angela las Texte von Ernst Toller und Muna Oud Mahmoud und ich las einen Text von Selahattin Demirtas und einen von mir, die bislang unveröffentlichte Geschichte „Hafez im Meer“, und die beginnt so:
An einem kalten Dezembertag nachmittags um vier sitzen 40 Menschen auf und in dem kleinen Boot. Die Frauen und Kinder in der Mitte, die Männer, soweit es geht, auf dem Schlauch. Die Kälte schneidet wie Milliarden kleine Messer in die Haut. Noch sitze ich eingeengt zwischen meinen beiden Taschen, angezogen, durchnässt, frierend. Ab den Knien spüre ich meine Beine nicht mehr.
Das ist die Geschichte von Hafez und seiner Reise über das Meer, wie er sie erlebt hat. Hafez aus Syrien, der seine Heimat 2015 verließ, weil er die Gewalt nicht mehr ausgehalten hat, die seinen Alltag bestimmte. Sie lauerte an jeder Straßenecke, in jeder Lebenssituation. Er hat sich auf die beschwerliche Reise gemacht, wissend, dass es ein Abschied für immer ist. Seinen Vater hat er nie wiedergesehen, denn er starb im Juni dieses Jahres.
Hafez’ Geschichte ist einzigartig, so einzigartig wie er selbst. Die Geschichte von Louis ist auch einzigartig, und die von Ousman, die von Muha, von Mohammed, Suleyman oder von der hübschen Sacdiyo. Sie alle leben inzwischen in München, sie haben es geschafft. Wenn sie vorher gewusst hätten, was auf sie zukommen wird, hätten sie sich diesen Gefahren nicht ausgesetzt. Sie hätten nicht gedacht, dass sie erst nach acht Jahren erfahren würden, ob sie hierbleiben dürfen oder nicht. Der physischen Qual auf der Reise folgte die psychische nach dem Ankommen, manche von ihnen haben die Reise nicht überlebt, andere nicht das vermeintlich sichere Leben in Ungewissheit.
Wenn Menschen sich auf den Weg machen und den Ort verlassen, der für sie Heimat ist, tun sie dies nicht aus freien Stücken, und sie tun es nicht gern. Wer hinterlässt schon die Gerüche, Farben und Geschmäcker des eigenen Lebens? Wer verlässt schon aus freien Stücken den kleinen Bruder oder die große Schwester, den geliebten Vater oder die eigene Mutter? Sie gehen, weil sie keine andere Wahl haben.
Die in München angekommenen Flüchtlinge haben die Reise überlebt, viele sind davon traumatisiert und alle müssen sich hier beweisen. Das Schwerste kommt also erst nach dem Ankommen – was aber kein Land dazu berechtigt, ihnen das Leben zu nehmen auf offener See durch Rückführung nach Libyen oder Verweigerung von Seenotrettung und einen sicheren Hafen.
Wir können uns glücklich schätzen, dass Claus-Peter Reisch mit der Sea Eye und andere NGOs nicht aufhören und sich beständig im Mittelmeer für ein menschliches Handeln einsetzen. Ohne ihn und seine Mitstreiter hätten wir Hafez, Louis und Ousman nie kennen gelernt. Ohne ihn wären wir alle eine schweigende Mehrheit, die dem Sterben im Mittelmeer achselzuckend aus der Ferne zusieht und jeden Toten auf den Berg der Verantwortung am Meeresgrund wirft. Wo man ihn nicht sehen kann.