Vom Trauma zur Power: Laurie Halse Anderson

Sie ist eine lebhafte, empathische, humorvolle und unbeirrbare Autorin, die unter 251 Kandidaten für den diesjährigen Astrid Lindgren-Gedächtnispreis (ALMA) ausgewählt wurde: Laurie Halse Anderson. Am 2. Mai 2023 hat die US-Amerikanerin den hochdotierten Preis in Stockholm in Empfang genommen für ihr phantasievolles, einfühlsames, mutiges Schreiben im Geiste der 2002 gestorbenen Kinder- und Jugendbuchautorin.

Am Dienstag, den 9. Mai durfte ich mit Laurie Halse Anderson in der Internationalen Jugendbibliothek im Schloss Blutenburg anlässlich des Preises ein langes Gespräch führen, und wir hatten beide viel Freude daran. Trotz der ernsten Themen, die sie in ihren Büchern für Jugendliche und junge Erwachsene verarbeitet – von Sklaverei über Magersucht bis Vergewaltigung – hat Laurie Halse Anderson einen hintergründigen Sinn für Humor und eine entspannte Gelassenheit, mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und den Themen der Zeit umzugehen. Gleichzeitig ist sie engagierte Kämpferin für Selbstbestimmung und Bildung.  Und sie kämpft gegen Zensur, denn seit einiger Zeit werden ihre Bücher in manchen Gegenden der Vereinigten Staaten von Schulcurricula gestrichen und aus öffentlichen Bibliotheken verbannt.

 

Gute Stimmung auf der Bühne mit Laurie H. Anderson (und Schauspielerin Simone Oswald, deutsche Texte).

Von ihren zahlreichen in Amerika sehr bekannten Kinder- und Jugendbüchern sind bisher nur zwei in deutscher Sprache erschienen: „Sprich“ und „Schrei!“, beide thematisieren Vergewaltigung im Jugendalter. Mit dem ersten Roman „Speak“ katapultierte sich Laurie 1999 in die Bestsellerlisten, in den anschließenden Lesereisen an Schulen und Bibliotheken traf sie auf so viele Opfer sexueller Gewalt und Übergriffigkeit, dass es 2019 anlässlich der #metoo-Bewegung Zeit wurde, ihre eigene Missbrauchs-Geschichte unzensiert als Versroman „Shout!“ zu veröffentlichen. Ihre Lebensgeschichte ist die Verwandlung von Traumata in Stärke – diesen Prozess vermittelt sie gelungen in ihren Büchern. In Deutschland erhältlich ist außerdem die Graphic Novel „Wonderwoman – Stürmische Zeiten“ und das von ihr edierte Comic über weibliche Vorbilder „Wonderwoman – Die wunderbaren Frauen dieser Welt“.

Volles Haus in der IJB. Mit (v. rechts) US-Generalkonsul Timothy Liston und Tochter, Lektorin Gabriele Leija (dtv) und Übersetzerin von „Shout!“ Bernadette Ott. 2. Reihe links: Simone Oswald, Schauspielerin.

Laurie Halse Anderson gehört zu diesen wunderbaren Frauen: sie schreibt unter die Haut, erzählt dabei alles immer in der ersten Person. Es ist ein Leichtes, ihren mit liebevollem Blick geführten Figuren zu folgen. Mit Spannung hantiert sie mühelos und besticht vor allem in ihren nicht-autobiografischen Werken: aus heutiger Sicht visionär ist ihre Erzählung über die Gelbfieber-Epidemie in Philadelphia „Fever 1793“ (2000), in der sie aus der Sicht der kleinen Matilda erzählt. Mit beklemmender Wucht erreicht einen das Leiden der jungen Mädchen, die Opfer von Bulimie und Magersucht sind in „Wintergirls“ (2009). Und mit einem überbordenden Reichtum an stimmigen Details taucht man tief ein in die Geschichte der anfangs 13-jährigen Isabel, der afro-amerikanischen Hauptfigur ihrer Romantrilogie „Seeds of America“ (2008-2016) über Slaverei zu Zeiten des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges.

Es lohnt in jedem Alter, die Bücher von Laurie Halse Anderson zu lesen: eine empathischere und liebevollere Autorin ist schwer zu finden.

Christine Knödler berichtete vorab in der SZ über die Preisverleihung. Beim Festakt selbst war das Literaturportal Bayern vor Ort. Hier beschreibt Thomas Lang seine Eindrücke.

Meine Tasche des Tages trägt den Aufdruck: „I’m a woman. What’s your super power?“

“Don’t let them get you down. Be cheeky. And wild. And wonderful.” Astrid Lindgren