Der Riss geht durch Familien

Kinder mit Hakenkreuz auf der Brust: Julia Cortis liest Hermynia zur Mühlens Roman über die frühe NS-Zeit„, so der Untertitel der Besprechung des Hörbuchs „Unsere Töchter, die Nazinen“ von Kritiker Wolfgang Schneider in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. August 2021.

In seiner ausgesprochen detaillierten und kenntnisreichen Kritik beschreibt Schneider kurz die Lebensgeschichte der „Roten Gräfin“ Hermynia zur Mühlen, deren Texte aus der Zeit nach 1930 für ihn die spannenderen sind, und dazu gehört vor allem dieses Buch: eine „fabelhafte Lesung des vielleicht spannendesten Textes dieser Autorin“ attestiert er, auch wenn keine Weltliteratur zu erwarten ist. „Aber eines der interessantesten literarischen Zeugnisse aus der Zeit des frühen Nationalsozialismus.

So ging es mir vor einigen Jahren bei der ersten Lektüre des Romans auch: das Büchlein – ein verblichenes DDR-Exemplar fiel mir in die Hände – barg die faszinierende Konstellation mütterlicher Lebenswirklichkeiten zu Beginn der 30er Jahre. Die Töchter sind in Zeiten der Arbeitslosigkeit (oder aus gräflicher Langeweile) fasziniert vom vermeintlichen Aufbruch, den ihnen die Nationalsozialisten versprechen, und ihre Mütter müssen sich dazu verhalten wie zu einer grassierenden Seuche:

„Während die Mütter … eine starke Immunabwehr gegen die NS-Pandemie aufweisen, sind die Töchter fast schutzlos. Das ist historisch stimmig, weil die zeitgenössische Faszinationskraft des Nationalsozialismus nicht zuletzt im revolutionären Aufbegehren der jungen Generation entstand.“

Und die kann bis zum Zerwürfnis führen und macht vor Extremen nicht halt: während Gräfin Agnes mit ihrer Tochter bricht (WS: lieber eine tote Tochter mit dem Herz auf dem rechten Fleck als eine „Nazine“), stellt sich die raffgierige Frau Dr. Feldhüter auf die Seite ihrer Tochter und räumt im großen Stil ab. Sie hat es dem Kritiker besonders angetan:

„Die stärksten Passagen sind in der Hörbuchfassung die Monologe der Martha Feldhüter, die in satirischer Überzeichnung ein Psychogramm des schamlosen Opportunismus bieten. (…) Diese Frau hat die Mentalität eines Piraten auf Kaperfahrt, verbrähmt das aber mit ihrem neu erblümten Idealismus der Volksgemeinschaft, den die Vorleserin Julia Cortis mit kabarettistischer Brillanz zur Geltung bringt. So schön wurden die Untaten der SA nie schöngeredet wie in dieser Suada einer „hochanständigen“ nationalsozialistischen Bürgerin.“

Der Roman mutet schon bei der ersten Lektüre merkwürdig aktuell an, sei es auf sprachlicher Ebene („Das ganze Städtchen war nun politisiert, überall standen kleine Gruppen herum und debattierten“, „Die Frau Doktor jedoch lief aufgeregt herum wie eine vergiftete Ratte“) oder auf inhaltlicher, wenn das Zerwürfnis von Müttern und Töchtern als psychologische Entwicklungsstudie anmutet anhand zahlreicher Introspektionen durch Monologe oder Tagebuchaufzeichnungen.

Was der Kritiker Wolfgang Schneider dann auch gleichermaßen wertschätzt:

„Der eigentliche Reiz des Romans hat … wenig damit zu tun, in welchem Punkt man aus historischer Distanz seinem Gesellschaftsbild zustimmen oder widersprechen würde. Er liegt vielmehr in der passionierten Zeitgenossenschaft des Textes und in der plastischen Lebendigkeit, mit der die Szenen aus einem toxisch politisierten Städtchen von 1933 geschildert werden. Diese Qualitäten werden durch die herzhaft involvierte Lesung von Julia Cortis noch verstärkt. Dank ihrer fein auf alle Gefühlsnuancen kalibrierten und angenehm zu hörenden Stimme treten das Ideologische des Textes zurück und das menschliche Drama, das sich mit dem politischen Konflikt verbindet, umso deutlicher hervor.“

Wolfgang Schneider im Feuilleton der FAZ vom 16. August 2021

Die „Vorleserin“ dankt von Herzen und wünscht sich jetzt eine breite Hörerschaft, die mit dafür sorgt, dass heute wie in der nahen Zukunft Ausgrenzung, Hass und Spaltung in unserer Gesellschaft ihrer Kraft beraubt werden.