Der Riss geht durch Familien – Die „Nazinen“ in der FAZ

Mit dem Untertitel „Kinder mit Hakenkreuz auf der Brust: Julia Cortis liest Hermynia Zur Mühlens Roman über die frühe NS-Zeit“ schreibt Rezensent Wolfgang Schneider am 16.08.2021 auf Seite 10 der Ausgabe Nr. 188 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Berühmt wurde sie in der Weimarer Republik als „rote Gräfin“. Unermüdlich schrieb sie sozialistische Propaganda-Erzählungen und Märchen. Für die Nazis war das „schädliches und unerwünschtes Schrifttum“. 1933 kehrte Hermynia Zur Mühlen deshalb zurück nach Österreich, wo sie 1883 in Wien als Hermine Isabelle Maria Folliot de Crenneville geboren worden war. 1939 emigrierte sie nach England, wo sie 1951 verarmt und vergessen starb. Spätestens mit der russischen Oktoberrevolution entdeckte die junge Frau aus dem österreichischen Hochadel, die sich als Volksschullehrerin hatte ausbilden lassen, ihre Liebe zum Proletariat. Ihre spannenderen Texte sind allerdings diejenigen, die von 1930 an entstanden und in denen diese Liebe zumindest in ihrer klassenkämpferisch-orthodoxen Form brüchig wird. Der einsetzende Stalinismus ließ Hermynia Zur Mühlen auf Distanz zur KPD gehen. Sie vertraute nun weniger auf die Masse als auf die Besinnung Einzelner.

Jetzt ist für die Hörbuchreihe „Verbrannte Literatur – neu entdeckt!“ eine fabelhafte Lesung des vielleicht spannendsten Textes dieser Autorin produziert worden. Schon der Titel des Romans aus dem Jahr 1934 lässt aufhorchen: „Unsere Töchter, die Nazinen“. Um es gleich zu sagen: Weltliteratur ist es nicht. Aber eines der interessantesten literarischen Zeugnisse aus der Zeit des frühen Nationalsozialismus. Brisant wird der Roman durch seine Dramaturgie der Verunsicherung. Mag ja sein, dass man genau weiß, was man von den Nazis zu halten hat, nämlich gar nichts, und dies auch ausführlich begründen kann. Aber was, wenn die eigene Tochter plötzlich mit strahlendem Gesicht von Hitler spricht und sich das Hakenkreuz an die Bluse heftet? So geschieht es in den drei Familien, die Hermynia Zur Mühlen darstellt. Die Mütter werden zu Erzählerinnen, wobei die Form mal zur Tagebuchaufzeichnung, mal zum inneren Monolog tendiert. Auf die verwitwete Arbeiterin Kati Gruber folgen die Arztgattin Martha Feldhüter und die alleinerziehende Gräfin Saldern, deren Verhältnis zu ihrer Tochter Claudia zudem von psychischen Konflikten geprägt ist. Die Handlung spielt in den Monaten vor und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung.

Während die Mütter (von der Arztgattin abgesehen) eine starke Immunabwehr gegenüber der NS-Pandemie aufweisen, sind die Töchter fast schutzlos. Das ist historisch stimmig, weil die zeitgenössische Faszinationskraft des Nationalsozialismus nicht zuletzt im revolutionären Aufbegehren der jungen Generation bestand. Was im Roman zum Erzählmuster wird, dürfte damals oftmals für Konflikte gesorgt haben: Eltern, die ihre Kinder nicht mehr begreifen. Tiefe Risse gingen durch die Familien. Bei der Gräfin Saldern führt der Verdruss so weit, dass sie ihre Tochter verwirft: „Ich hasste die Stunde, da ich sie geboren hatte.“ Zur Versöhnung kommt es erst durch den Tod Claudias, die ob eines nationalsozialistischen Gewaltexzesses zur Besinnung kommt, ehe sie erschossen wird. Lieber eine tote Tochter mit dem Herz auf dem rechten Fleck als eine „Nazine“ mit Hakenkreuz auf der Brust. So die Auffassung der Gräfin, bei der sich Menschenfreundlichkeit und Kälte merkwürdig mischen.

Die stärksten Passagen sind in der Hörbuchfassung die Monologe der Martha Feldhüter, die in satirischer Überzeichnung ein Psychogramm des schamlosen Opportunismus bieten. Lange hat Frau Feldhüter am Statusdefizit gelitten, weil der jüdische Konkurrent ihres Mannes der angesehenere Arzt am Ort war. Nun endlich, 1933, eröffnet sich die Möglichkeit auf das ersehnte standesgemäße Leben im Kreis der Kleinstadt-Honoratioren, als ihr Mann seine politische Zurückhaltung aufgibt. Er folgt dem Vorbild der Tochter Liselotte und bekennt sich zum Nationalsozialismus.

Götz Aly hat als wesentliches Motiv hinter dem Antisemitismus im Dritten Reich die Bereicherung durch „Arisierung“ benannt. Der Roman exemplifiziert das bei der Arztgattin: Villa und gesellschaftliche Stellung – alles wird von dem jüdischen Arzt „übernommen“. Diese Frau hat die Mentalität eines Piraten auf Kaperfahrt, verbrämt das aber mit ihrem neu erblühten Idealismus der Volksgemeinschaft, den die Vorleserin Julia Cortis mit kabarettistischer Brillanz zur Geltung bringt. So schön wurden die Untaten der SA nie schöngeredet wie in dieser Suada einer „hochanständigen“ nationalsozialistischen Bürgerin.

Dass eine linke Autorin vorführt, wie der Nationalsozialismus junge Frauen zu affizieren vermag, ist erstaunlich genug, auch wenn die politpädagogische Tendenz überdeutlich ist: Die Weltanschauung der Nazis ist verlogen, ihre Führer sind der „Abschaum der Menschheit“. Deutschland ist von 1933 an ein Gefängnis. Dass angesichts der Inkompetenz der braune Spuk schnell wieder vorbei sein dürfte, davon war Hermynia Zur Mühlen wie so viele Linke in den ersten Monaten nach Hitlers Machtergreifung überzeugt. Es war selbst eine Form der Verblendung, die vor allem die auf Hoffnung gestimmten Schlusskapitel des Romans etwas fade erscheinen lässt. Dennoch hat die Autorin auf längere Sicht mit ihrer Vision des NS-Gewaltregimes natürlich recht behalten.

Der eigentliche Reiz des Romans hat aber wenig damit zu tun, in welchen Punkten man aus historischer Distanz seinem Gesellschaftsbild zustimmen oder widersprechen würde. Er liegt vielmehr in der passionierten Zeitgenossenschaft des Textes und in der plastischen Lebendigkeit, mit der die Szenen aus einem toxisch politisierten Städtchen von 1933 geschildert werden. Diese Qualitäten werden durch die herzhaft involvierte Lesung von Julia Cortis noch verstärkt. Dank ihrer fein auf alle Gefühlsnuancen kalibrierten und angenehm zu hörenden Stimme treten das Ideologische des Textes zurück und das menschliche Drama, das sich mit dem politischen Konflikt verbindet, umso deutlicher hervor.

Hermynia Zur Mühlen: „Unsere Töchter, die Nazinen“. Gesprochen von Julia Cortis. Verlag GESAFA, Viersen 2021, 1 MP3-CD, 360 Min., 18,- Euro.

Wir freuen uns über diese wunderbare Rezension und danken von Herzen.