Hermynia zur Mühlen und ihr Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“

„Dann aber kam München und die Demoralisierung der Menschen begann.“
Lesung und Gespräch mit Literaturhistoriker Sven Hanuschek von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Katharina Manojlovic vom Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek.

1929 erschien in der angesehenen Frankfurter Zeitung der Fortsetzungsroman „Ende und Anfang“ von der zum damaligen Zeitpunkt 42jährigen Österreicherin Hermynia zur Mühlen. Die polyglotte Autorin schreibt in ihren Jugenderinnerungen in chronologischen Anekdoten über den kulturellen und moralischen Verfall einer Welt, die sie eigentlich mit der russischen Revolution von 1917 als beendet erachtet hatte. Ihr Heranwachsen in der österreichischen Aristokratie in Gmunden an der Traun im Salzkammergut erzählt sie humorvoll und pointiert, und sie lässt auch erkennen, woher sie ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn nimmt: zum einen von ihrer liberalen englischen Großmutter, bei der sie aufwuchs und die ihr die Ehrfurcht vor der arbeitenden Bevölkerung lehrte; zum anderen von ihren Erlebnissen mit Angehörigen des Adels und deren Leben im Glashaus, in dem der Tod von Arbeitern schulterzuckend zur Kenntnis genommen wird und eine ganz eigene Gerichtsbarkeit herrscht. Das Buch endet mit dem Kriegsausbruch 1914, den die frisch geschiedene Gräfin – jetzt auch mit russischer Staatsbürgerschaft – im Lungensanatorium Davos erlebt.

1951 wird Hermynia zur Mühlen – die trotz der Erfahrungen zweier Weltkriege ihren humanistischen Blick auf die Menschen aufrecht hält  – unter ihrem zweiten Ehenamen Hermynia Kleinova Ihre Lebenserinnerungen „Ende und Anfang“ um ein wichtiges Kapitel ergänzen: um das Leben im vielfachen Exil. Zunächst dem österreichischen ab 1933, nach dem Anschluss dann dem kurzzeitigen in der Tschechoslowakei. Nachdem Hitler Ende September 1938 in der heutigen Musikhochschule in München mit Mussolini, Chamberlain und Daladier das „Münchner Abkommen“ über die Abtretung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich unterzeichnet, flieht Hermynia zur Mühlen über die Schweiz und Frankreich ins großmütterliche England. In diesen Jahren übersetzt und schreibt Hermynia zur Mühlen ohne Unterlass weiter – und erkennt früh die unheilvolle Gefahr, die von den Nationalsozialisten für die Menschheit ausgeht. Über ihre Ankunft in Wien, aus Frankfurt kommend, klingt das unmissverständlich:

„Nun fuhren wir durch eine Stadt ohne Hakenkreuzfahnen, an Menschen vorüber, die nicht auf ihren Gesichtern den starren Ausdruck der Deutschen hatten, sondern wie wirkliche Menschen wirkten. Wir hatten (…) so viele abscheuliche Dinge gesehen, dass (…) ich mir sofort einbildete, man müsse die Menschen hier warnen, indem man über den Nationalsozialismus die Wahrheit schreibe, Tag und Nacht, zur Zeit und zur Unzeit. Es müsse einem gelingen, den Gleichgültigen die furchtbare Wahrheit – und die entsetzliche Gefahr, in der Österreich sich befand – klarzumachen. Aber ich hatte wenig Glück. Nur ganz wenige Zeitungen, darunter die „Arbeiter-Zeitung“, brachten ab und zu eine Anti-Nazi-Novelle. Die meisten aber wollten Humoresken. Als mir dann einmal ein Feuilletonredakteur erklärte, er wolle keine Anti-Nazi-Sachen, ich solle ihm Humoresken bringen, bei denen dem Leser der Bauch wackle, packte mich eine solche Wut, dass ich heimging, mich an meinen Schreibtisch setzte und binnen drei Wochen meinen Anti-Nazi-Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“ schrieb. Es dauerte wesentlich länger, bis das Buch einen Verleger fand.“ Das Buch fand 1935 im Gsur-Verlag von Schriftsteller Ernst Karl Winter einen Verleger, der selbst im darauffolgenden Jahr wegen seines „linken“ Programms zur Aufgabe seiner Tätigkeit gezwungen wurde.

Der antifaschistische Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“ bedient sich der Innensicht dreier Familien in einer kleinen, nicht näher benannten Stadt am Bodensee, die dem idyllischen Ort Gmunden im Salzkammergut nicht unähnlich ist. Und dass Sigmund Freud nachgewiesenermaßen im Jahr der Geburt von Hermynia zur Mühlen ebenfalls dort weilte, ist ein kleines Detail, das nur für die Leser eine Rolle spielt, die über die psychologische Tiefenschärfe staunen, mit der Hermynia zur Mühlen ihre Figuren zeichnet: drei Mütter und drei Töchter sind die handelnden Figuren, und die Konflikte liegen nicht nur in den erwartbaren der Adoleszenz, sondern auch in denen der Rollenerwartung der jeweiligen „Klasse“. Die Mütter – eine Arbeiterin, eine Bürgerin und eine Adelige – wollen naturgegeben nur das „Beste“ für ihre Töchter, und das unterscheidet sich doch stark. Denn die Sorgen der Arbeiterfamilie und die der alternden adeligen Büchernärrin im Elfenbeinturm stehen sich diametral gegenüber, dazwischen lechzt die bürgerliche Arztgattin nach Höhergruppierung, gerne unter opportunistischer Ausnutzung der gesellschaftlichen Duldung von Hassverbrechen an jüdischen Bürgern im Ort. Die Verführbarkeit der Mädchen durch die Gruppendynamik der organisierten Jugend und den Heilsversprechen der Nazis angesichts hoher Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise steht im Mittelpunkt der sechs Monologe der Mütter, die zwei Zeitabschnitte widerspiegeln: Das Jahr vor und das nach der Machtergreifung. Die rein feministische Perspektive, aus der Hermynia zur Mühlen Ängste und Eifer, Liebe und Hass, Gefahr und Widerstand lebendig und plastisch werden lässt, ist ungemein faszinierend. Selbst das Mitläufertum, das sich nach der Katastrophe des Holocaust mindestens eine ganze Generation entschuldigend zu eigen gemacht hat, ist in den Figuren so folgerichtig aufgebaut, dass man beinahe Verständnis aufbringen kann – unbeirrbar aber gehen Mütter und Töchter schließlich ihren Weg, die Wandlung der Charaktere zu aktiven oder passiven Widerständlern wie zu aktiven Nationalsozialisten wird fast körperlich erlebbar. Der Ausgang dieser Sozialstudie konnte zur Zeit der Niederschrift anno 1934 noch hoffnungsvoll sein. Die Nachwelt weiß es besser und erschrickt angesichts der Klarheit, mit der Hermynia zur Mühlen die Ereignisse vorweggenommen hat.

Nach 1945 wurde der Roman erst in den 80er Jahren wieder aufgelegt. Ein Exemplar der Taschenbuch-Erstausgabe von 1983 fiel mir vor einigen Jahren zufällig in die Hände, erschienen im Aufbau-Verlag Berlin, zu DDR-Zeiten für 1,85 Mark verkauft. Aus diesem abgegriffenen Büchlein alljährlich zum Gedenken an die Verbrechen der Nazis lesend – sei es anlässlich der Pogrome vom 9. November 1938 oder zum Tag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 – wuchs meine Faszination über diese Schriftstellerin mit Haltung und Charakter, die im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen keine Kompromisse mit den Nazis einging. Der Aufforderung ihres deutschen Verlegers, keine weiteren Artikel in der Exil-Zeitschrift „Neue deutsche Blätter“ zu veröffentlichen, da man sonst ihren Roman „Das Riesenrad“ in Deutschland boykottieren könnte, erwiderte sie:

„Da ich Ihre Ansicht, das Dritte Reich sei mit Deutschland und die »Führer« des Dritten Reiches seien mit dem deutschen Volk identisch, nicht teile, kann ich es weder mit meiner Überzeugung noch mit meinem Reinlichkeitsgefühl vereinbaren, dem unwürdigen Beispiel der von Ihnen angeführten vier Herren (Alfred Döblin, René Schickele, Stefan Zweig und Thomas Mann) zu folgen, denen scheinbar mehr daran liegt, in den Zeitungen des Dritten Reiches, in dem sie nicht leben wollen, gedruckt und von den Buchhändlern des Dritten Reiches verkauft zu werden, als treu zu ihrer Vergangenheit und zu ihren Überzeugungen zu stehen.“ (in: Werke, Band 4)

Das Reinlichkeitsgefühl der Hermynia zur Mühlen ist das Rückgrat für Widerstand gegen Rechtsextremismus, Hass und Hetze gestern wie heute. Daher sollten wir jede Gelegenheit wahrnehmen, ihre Texte zu lesen und zu verbreiten. Die Werke der mehrfachen Exilantin wurden 1933 in Deutschland auf die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums gesetzt. Beim Bonner Mahnmal aus sechzig bronzenen Bücherrücken, das an die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten erinnert, steht auch ein Titel von Hermynia zur Mühlen: ihre Autobiographie in zwei Teilen „Ende und Anfang“.

Für das Hörbuch des Romans „Unsere Töchter, die Nazinen“ aus dem Jahr 1935 habe ich in Christine Lemke eine Verbündete gefunden, die das Projekt unter ihre Fittiche genommen hat (Verlag GeSaFa) und in der Tonmeisterin Antje Reichmann, eine unbestechliche Hörerin und Mischerin. Die Pianistin Babette Dorn spielt dazu Auszüge aus dem Klavierwerk der verfolgten Komponistin Ilse Fromm-Michaels – mit Hermynia zur Mühlen haben also 6 Frauen ihren Roman hörbar gemacht. Ihnen allen gemein ist ihre Überzeugung, dass diese Geschichte nicht mehr in der Geschichte versinken darf, sondern gehört werden muss.

Bei der Hörbuchvorstellung am Mittwoch, den 16. Februar 2022, um 19 Uhr
im NS-Dokumenationszentrum in München, neben dem ehemaligen Führerbau (heute Musikhochschule) in der Arcisstraße, werde ich mit Literaturhistoriker Sven Hanuschek von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Katharina Manojlovic vom Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek über die Autorin und ihr Werk sprechen und Abschnitte aus dem Roman lesen. Die Veranstaltung findet statt im Rahmen der aktuellen Ausstellung „John Heartfield. Fotografie plus Dynamit„. John Heartfield hat für die von Hermynia zur Mühlen übersetzten Werke u.a. von Upton Sinclair im Malik-Verlag seines Bruders Wieland Herzfelde die Umschläge gestaltet. Hier etwa die in 3 Bänden erschienen Werke von Upton Sinclair: Das Buch des Lebens in der 1. Auflage von 1922, in der autorisierten Übersetzung von Hermynia zur Mühlen:

 

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Alle Fotos dieses Beitrags © Julia Cortis
Die hervorragend edierte Werkausgabe in vier Bänden ist bei Zsolnay, Wien 2019 erschienen.