1933 – 1938 – 2024 „Wenn diese Menschen an die Macht kommen, nicht auszudenken.“

Warum wir vorlesen, zuhören und miteinander sprechen müssen. Ein Text zum 9. November 2024.

Gmunden am Traunsee im Salzkammergut – hier aus der Perspektive der Villa von Isabella Luisa Gräfin Wydenbruck, Hermynias englischer Großmutter.

„Sie war unglücklich gewesen, kränklich und zart, aber welche Kraft sprach dennoch aus ihren Werken.“

Dieser Satz über die Schriftstellerin Annette Droste-Hülshoff stammt von Hermynia zur Mühlen. Sie hat ihn der Figur der Gräfin Agnes in ihrem Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“ zur Jahreswende 1933/34 in den Mund gelegt. Dies ist nur einer der vielen autobiographischen Bezüge in dem visionären Text der Autorin und Übersetzerin, die 1883 in Wien in großen Reichtum geboren wurde und 1951 als Emigrantin im kleinen Ort Radlett nördlich von London bitterarm starb. Ihr Leben und ihr Schreiben waren einzig und allein dem Kampf für Gerechtigkeit und Frieden gewidmet, sie entwickelte sich von der aus adligem Haus stammenden reichen, jungen, idealistischen Kommunistin hin zur intellektuellen Pazifistin und unermüdlichen sozialkritischen Aufklärerin. Sie selbst bezeichnete sich nach ihrer Abkehr vom Kommunismus als „linke Katholikin“.

Die ehemalige Villa von Hermynias Großmutter in Gmunden: heute luxussaniert, parzelliert und aufgestockt.

Ihre Lebensstationen waren Gmunden am Traunsee – dort verbrachte sie größtenteils ihre Kindheit bei der Großmutter – dann Wien; jung heiratete sie einen Grafen im Baltikum, kam von Estland nach gescheiterter Ehe zur Lungenheilung  nach Davos, wo sie auf den aus Ungarn stammenden jüdischen Übersetzer Stefan Klein traf, er wurde ihr Lebenspartner und zweiter Ehemann. Sie gingen gemeinsam nach Frankfurt, von dort flohen sie 1933 zurück nach Wien, 1938 – nach dem „Anschluss“ Österreichs – ging die Flucht weiter nach Bratislava, von dort über Budapest, Jugoslawien, Italien, die Schweiz und Frankreich bis zur Ankunft im Juni 1939 in London. Polyglott und klar antifaschistisch, kritisch fragend und forschend, mit ihren Essays und Kurzgeschichten auch in England weiter kämpfend für Gerechtigkeit, Empathie und gegen Unterdrückung und Krieg schrieb Hermynia zur Mühlen unter vielen Namen: als Autorin war sie Maria Berg, Franziska Maria Rautenberg, Lawrence H. Desberry oder Traugott Lehmann, als Übersetzerin aus dem Russischen, Französischen und Englischen – insbesondere der Romane des US-Amerikaners Upton Sinclairs – war sie Hermynia zur Mühlen oder Franziska Maria Tenberg. Im Lauf ihres Lebens gesellten sich zu ihrer österreichischen Staatsbürgerschaft auch die Russlands, der Tschechoslowakei und Großbritanniens.

Ein Drittel der heutigen Bevölkerung von Radlett in Hertfordshire ist jüdischen Glaubens.

1950, ein Jahr vor ihrem Tod, ergänzte Hermynia zur Mühlen ihre Autobiographie „Ende und Anfang“ um einen Nachtrag, in dem es rückblickend über die Flucht von Frankfurt am Main nach Wien heißt:

„Wir hatten jenseits der Grenze so viele abscheuliche Dinge gesehen, dass … ich mir sofort einbildete, man müsse die Menschen hier warnen, indem man über den Nationalsozialismus die Wahrheit schreibe, Tag und Nacht, zur Zeit und zur Unzeit. Es müsse einem gelingen, den Gleichgültigen die furchtbare Wahrheit – und die entsetzliche Gefahr, in der Österreich sich befand – klarzumachen.“

Als nach ihrer Ankunft in Wien jedoch die Verlage von der damals anerkannten Schriftstellerin unterhaltsame Erzählungen geliefert bekommen wollten, platzt ihr der Kragen:

„Als mir dann ein Feuilleton-Redakteur erklärte, er wolle keine Anti-Nazi-Sachen, ich solle ihm Humoresken bringen, bei denen dem Leser der Bauch wackle, packte mich eine solche Wut, dass ich heimging, mich an meinen Schreibtisch setzte und binnen drei Wochen meinen Anti-Nazi-Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“ schrieb.“

In klarer, fast moderner Sprache beschreibt Zur Mühlen hellsichtig und analytisch exakt, wie sich der spaltende Hass und die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung in dem kleinen Städtchen am See nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten innerhalb der Familien auf Eltern und Kinder, und insbesondere auf Mütter und Töchter auswirken. Wie verzweifelt Mütter versuchen, ihren Kindern das aufkommende, sich in Gewalttaten abzeichnende Grauen und die Gefahren zu vermitteln, mit dem Ziel, deren beginnende Begeisterung für Führerkult und Hitlerjugend zu brechen. Satirisch überzeichnet Hermynia zur Mühlen auch die sogenannten „Mitläufer“, etwa in der Person der Arztgattin Feldhüter, der gesellschaftlicher Aufstieg wichtiger ist als Moral. Auch der Vater instrumenalisiert die Familie für seine Zwecke – kurzum: in diesem Text ist bereits alles angelegt, was sich im Laufe der Geschichte aufs Fürchterlichste bewahrheiten sollte.

„Wenn diese Menschen an die Macht kommen … es ist ja nicht auszudenken, Doktor. Sie werden alles, was anständig, was vornehm und kultiviert war, zerstören“, so Gräfin Agnes zum jüdischen Doktor Bär, der dem Tod im Konzentrationslager durch Suizid zuvorkommt.

Auf dem Friedhof gegenüber der anglikanischen Christ Church in Radlett findet sich kein Grabstein von Hermynia Kleinova. Auch ihr Nachlass ist verschollen.

Hermynia zur Mühlens Publikationen kamen erst in Deutschland, später auch in Österreich, auf die Liste des sogenannten „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Sie mögen vielleicht nicht alle auf literarisch höchstem Niveau stehen, doch die antifaschistische und humanitäre Grundhaltung der Autorin überzeugt auch textlich vor allem in diesem Roman. Er stellt uns die so aktuelle Frage:  wie können wir verhindern, dass fremdenfeindliche, rassistische und menschenverachtende Erzählungen den politischen Diskurs dominieren und die Gefahr besteht, „diese Menschen“ erringen Macht. Macht über uns, über Menschen, Gruppen, Nationen und Staaten. Wir haben es gerade wieder gesehen: sie werden vom Volk gewählt.

Was wir tun können: darüber sprechen. Lesen. Lest vor. Erzählt. Hört zu. Hört an. Es ist alles bereits geschrieben, für alle Altersgruppen. Veranstaltet Lesungen mit Musik von Zeitgenossen. Es gibt sowohl Texte von Zeitzeugen als auch zahlreiche Neuerscheinungen junger Autorinnen, es gibt sie und wir alle müssen heute dafür sorgen, dass das Sprechen über diese Zeit nie verstummt. Die Erinnerung an das größte Verbrechen der Moderne nie verblasst. Und niemand sagen kann, es sei nicht geschehen.

Julia Cortis liest aus dem Werk „Unsere Töchter, die Nazinen“ von Hermynia Zur Mühlen