„Immer dieses Gedenken!“

Pünktlich zum 79. Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938 veröffentlichte die Rheinische Post heute um Mitternacht eine Meldung, wonach das Interesse an NS-Gedenkstätten stark gestiegen sei. Nach einer Umfrage der Zeitung soll die Zahl derer, die in den vergangenen zehn Jahren der KZ-Gedenkstätte Auschwitz einen Besuch abgestattet haben, von jährlich 989.000 auf über zwei Millionen angewachsen sein. Auch in der Gedenkstätte Dachau erhöhte sich die Besucherzahl von rund 800.000 auf eine Million Besucher im Jahr.

Diese Nachricht ist per se einmal eine gute. Ergänzt wird sie vom Leipziger Professor für Geschichtsdidaktik Alfons Kenkmann, der mit den Worten zitiert wird:

Die Authentizität an den Erinnerungsorten ermöglicht einen größeren Wahrheitszugriff.

Auch das keine neue, aber eine immer wieder betonenswerte Erkenntnis. Durch die Fülle von Opfer-Nachlässen, die von den Gedenkstätten gesammelt würden, seien sie auch in der Täterforschung stärker geworden. Und dieser Satz katapultiert uns schlagartig ins Heute: wir wissen inzwischen, wie uneffektiv die sogenannte „Entnazifizierung“ in Deutschland verlaufen ist, wir wissen – nicht nur von Historikern, auch dank großartiger Kabarettisten wie Claus von Wagner und Max Uthoff, die das Thema immer wieder in der „Anstalt“ aufgreifen und in deutsche Wohnzimmer spülen – vom Versagen von Politik und Gesellschaft gegen „Rechts“, gegen Fremdenhass, Ausgrenzung, gegen Alt- und Neunazis.

Ist das nicht Grund genug, jährlich am 9. November einen kleinen Moment innezuhalten und derer zu Gedenken, die der Naziherrschaft zum Opfer fielen? Opfer, in deren Häuser wir heute wohnen, deren Kinder und Enkelkinder, Cousinen und Großcousins wir vielleicht kennen? Und selbst, wenn wir niemanden kennen, der mit dem in München gekeimten Terror dieses Regimes in Berührung kam: wenn wir heute gefragt werden, wie wir – die unbescholtene und unschuldige Generation – unserer Verstorbenen gedenken, dann sehen wir asterngepflasterte Friedhofstore am 1. November, treffen davor oder darin auf die vielen Menschen, die in jedem Jahr die Gräber ihrer Angehörigen besuchen, sie „herrichten“. Und selbst das Selbstverständliche an diesem Ritual ist uns in jedem Jahr wieder eine mediale Erwähnung wert. Aber unsere Freunde und Bekannten, die Nachfahren von Sinti und Roma, Homosexuellen und KPDlern, Juden oder jüdischstämmigen Menschen sind, haben keinen Ort, an den sie gehen können. Sie können nur auf eine Gedenktafel schauen und sich vorstellen, dass einer der Ihren unter den Tausenden ist, derer dort als Gruppe gedacht wird. Sie können durch einen unterirdischen Gang gehen, der tausende Namen versammelt, hinter denen sich jeweils ein Einzelschicksal versteckt. Oder sie können einen Stolperstein mit Namen, Geburts- und Sterbedatum in die Erde versenken, am letzten Wohnort. Wenn man es ihnen denn erlaubt. Ihre Friedhöfe sind unsichtbar.

„Immer dieses Gedenken!“ sagte jemand heute früh zu mir. Ja. Immer dieses Gedenken. Bitte immer und immer wieder und hoffentlich auch wieder medial an jedem 9. November, auf allen Kanälen.

Foto: Julia Cortis / Ort: Augustenstr. 98, München

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