Unter den Hashtags #10mai1933 und #gegenVergessen erinnern Menschen deutschlandweit an den Tag, an dem Nationalsozialisten und ihre Mitläufer Bücher von Autorinnen und Autoren verbrannten, deren Gedankengut nicht der nationalsozialistischen Propaganda entsprach. Nicht überall war es der 10. Mai, wie etwa in den Universitätsstädten München und Berlin – die Bücher brannten auch davor und danach, teils mit studentischer, teils ohne deren Beteiligung. Mit der Veröffentlichung der „12 Thesen wider den undeutschen Geist“ am 12. April 1933 hatte die ideelle Säuberung bereits begonnen: jüdische, sozialdemokratische, kommunistische und liberale Ideen und ihre Vertreter wurden angeprangert und sollten von der deutschen Studentenschaft und dem gesamten „deutschen Volk“ als undeutsch gebrandmarkt werden.
Die jährlichen Gedenkveranstaltungen zur Bücherverbrennung können im Jahr 2020 nur digital stattfinden. Dazu habe ich den Text einer österreichischen Autorin gewählt, der mir vor ein paar Jahren in einer verblichenen DDR-Ausgabe in die Hände gefallen war: der Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“ von Hermynia Zur Mühlen. Nach der Lektüre kann man sich nur noch schwer vorstellen, dass nicht einmal Intellektuelle und Schriftsteller die schleichende Implementierung des Terrors erkannt oder ihn falsch eingeschätzt haben sollen: denn der durchaus modern anmutende Generationenkonflikt zwischen drei Müttern und ihren dem faschistischen Gedankengut zugeneigten Töchtern entstand in ebendieser Zeit und beschrieb sie und die Phänomene der nationalsozialistischen Durchseuchung in fallartigen Charakterstudien, meist in Monologen, auch in Mutter-Tochter-Dialogen. Erzählt wird die Zeit von Januar bis Juli 1933, die Handlung im Roman reicht bis 1918 zurück und niedergeschrieben hat Hermynia zur Mühlen ihn zur Jahreswende 1933-34. (Da das Saarland bis 1935 nicht Teil Deutschlands war, konnte dort sogar ein Vorabdruck in der Zeitung „Deutsche Freiheit“ erscheinen – und gelesen werden.)
Drei Frauen, drei soziale Schichten, drei Töchter, die ohne „ideologische Vorbelastung“ sind und entscheiden, sich – vorübergehend oder endgültig – den Nazis anzuschließen. Wenngleich wir uns heute nicht in derselben historischen Situation befinden, können wir doch soziologisch Parallelen im jeweiligen Mutter-Tochter-Konflikt erkennen, der durchaus auch in aktuellen Positionen zu finden ist – etwa in Familien mit AfD-Anhängern oder bei jungen konservativen „Macher“-Frauen mit Statussehnsucht.
Wie die Liebe zum eigenen Kind auf die härteste Bewährungsprobe gestellt wird – das erfährt man bei Hermynia Zur Mühlen und in ihrer Literatur. Sie entwirft in „Unsere Töchter, die Nazinen“ eine düstere Zukunftsvision, wenngleich im letzten Kapitel der Hoffnung auf ein sich von innen heraus erneuerndes Kapitel der Menschheitsgeschichte (durch vorherigen Zusammenbruch) Raum gegeben wird. Wir aber wissen, wie es gekommen ist.
Anlässlich des 87. Jahrestages vom 10. Mai 1933 können Sie hier einen Ausschnitt hören:
Sie finden die „Lesungen gegen das Vergessen“ auch unter Facebook: #lesunggegendasvergessen und auf Instagram: #lesung_gegendasvergessen. Titelphoto © Julia Cortis 2020: Installation der verbrannten Bücher in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem.