#LeaveNoOneBehind

Am späten Abend des Karfreitag 2020, diesem besonderen Karfreitag an Corona-Ostern, schrieb ich unserer Kanzlerin und ihren Ministern einen Brief. Noch in derselben Nacht hat sich ein junger Gambier hier in München das Leben genommen. Seine Freunde sind zutiefst erschüttert. – Ich veröffentliche diesen Brief nun zur Ermutigung anderer: unterstützt die jungen Menschen, die aus ihren Heimatländern geflohen sind. Sie haben – wie wir alle – nur dieses eine Leben.

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
sehr geehrter Herr Maas, sehr geehrter Herr Seehofer,

ich bin Halbbritin und lebe seit meiner Geburt in Deutschland. Mit Interesse verfolge ich alles, was im Vereinigten Königreich geschieht, mit demselben Interesse beobachte ich die britische Perspektive auf Deutschland. Die Briten, und nicht nur sie, schauen in dieser katastrophalen Situation der Pandemie mit Erstaunen auf die deutschen Zahlen und man bekommt das Gefühl, wir haben hier entweder viel Glück oder einiges richtiggemacht. Ich tendiere zu letzterer Einschätzung und will ergänzen: nicht nur wir, SIE haben einiges richtiggemacht. Und dafür zolle ich Ihnen meinen Respekt. Ich kann mir vorstellen, dass Sie tagtäglich an Ihre Grenzen kommen, physisch und vielleicht auch psychisch. Ich wünsche Ihnen, dass Sie gesund bleiben.

Dennoch oder gerade weil wir es hier bislang mit einer verhältnismäßig moderaten Entwicklung von Covid 19 zu tun haben, haben wir auch die Möglichkeit, den europäischen Gedanken der Gemeinschaft wiederzubeleben. Denn tagtäglich üben wir uns nun in Gemeinsinn, indem wir die uns auferlegten Verordnungen zum Wohl der Allgemeinheit einhalten und unterstützen. Und indem wir etwa die Nachbarn versorgen, uns um unsere Senioren kümmern, bei lokalen Geschäften Ware bestellen und liefern lassen, außer Haus Rücksicht auf unsere Mitmenschen nehmen und ansonsten zuhause bleiben.

Wir haben ein Zuhause. Tausende Menschen in Griechenland haben keines. Und darunter sind tausende Minderjährige, die sich alleine bis dorthin durchgeschlagen haben. Und die in völlig überfüllten Flüchtlingslagern zu überleben versuchen. Sie können sich nicht die Hände waschen, sie können keine Armlänge Abstand halten, sie haben keine Privatsphäre, keinen Schutz. Und niemanden, der sich für sie interessiert. Manche versuchen, sich das Leben zu nehmen oder sprechen davon.

Moria oder andere Lager gibt es nicht erst seit gestern. Es gibt sie seit Jahren, seit 2015. Und Europas Staats- und Regierungschefs sind diejenigen, die dafür sorgen müssten, dass der europäische Gedanke eine Renaissance erlebt. Leider sieht es so aus, als schlagen wir genau die Gegenrichtung ein. Die Staaten kümmern sich angesichts der Corona-Krise nur noch um sich selbst, wenngleich heute eine gemeinsame Strategie und die wirtschaftliche Unterstützung schwächerer durch stärkere Staaten beschlossen wurde. Doch auch auf humanitärer Ebene darf es ein „Germany first“ nicht geben – das hatten wir schon einmal. Ich bin mir sicher, dass die Zivilgesellschaft in Deutschland wesentlich stärker und großzügiger ist, als Sie es ihr zutrauen. Und ich bin mir sicher, dass wir es aushalten werden, den Wert „Gemeinsinn“ neu zu interpretieren im Sinne eines humanistischen, sicheren Zuhauses für die Schwächsten.

Seit vielen Jahren bin ich hauptberuflich Nachrichtensprecherin im Hörfunk. Mein Job ist es, den Menschen die schwierigsten, beängstigendsten und ärgerlichsten Nachrichten auf eine Weise zu vermitteln, dass sie sich beim Hören informiert und nicht überfordert fühlen und gleichzeitig wissen, dass die Inhalte einer sicheren, einer seriösen Quelle entspringen. Außerdem möchte ich dem Hörer ein ruhiges, unaufgeregtes und wertschätzendes Bild der jeweiligen Lage oder betroffenen Person vermitteln. Das ist manchmal schwierig, aber meistens möglich. Nichts konnte mich bisher aus der Fassung bringen – ob es die bildhafte Vorstellung einer tödlichen Riesenwelle und die Explosion eines Kernkraftwerkes in Japan oder die Henkersmethoden der Taliban und die Verstümmelungen ihrer Opfer waren, meine professionelle Distanz ließ mich und meine Kollegen das Unerträgliche ertragen. Denn wir haben einen Auftrag, der uns wichtig ist.

Doch gestern war es soweit: Sie haben mich zum Weinen gebracht. Als ich hörte, dass Deutschland sich entschieden hat, vorerst 50 Kinder aus Moria aufzunehmen. Nur 50 Kinder?

Als Ursula von der Leyen letzte Woche ankündigte, Europa würde etwa 1000 Kinder aufnehmen, wenn geklärt sei, „welche Sprachkurse“ sie in den jeweiligen Ländern bekommen würden, konnte ich meine Empörung schon kaum zurückhalten. Als ob Kinder erst Hilfe verdienen, wenn geklärt ist, in welcher Sprache sie das ABC sagen können. Europa wartet schon viel zu lange. Und Deutschland hat die Kapazitäten! Aber ob wir auch den Mut, das Herz und die Menschlichkeit aufbringen, jetzt, sofort zu handeln und so viele Kinder wie möglich aus diesem Lager in Sicherheit zu bringen? Es wäre ein Charaktertest für unsere ganze Nation und alle Menschen, die hier leben. Insbesondere aber für die von uns gewählte Regierung.

Wir würden übrigens gerne eines der Kinder oder einen Jugendlichen bei uns in München aufnehmen. Viele Menschen in Deutschland wären dazu bereit. Nur dürfen wie es nicht, weil unsere Regierung es nicht zulässt.

Lassen Sie uns nicht zurückfallen in die Zeit vor Covid 19. Dieses Virus macht vor keinem halt. Es überspringt mit Leichtigkeit Standes- und Staatsgrenzen. Die gesamte Zivilgesellschaft ist also mit einer Situation konfrontiert, die ihr in jedem Moment des Tages eine Entscheidung zum „richtigen“ Handeln abverlangt. Und das gelingt ihr offenbar ganz gut. Sollten wir diesen sozialen, humanitären Fortschritt, sollten wir diese Empathie nicht auch gegenüber Menschen außerhalb unserer jeweiligen Staatsgrenzen leben können? Es wäre nur ein kleiner Schritt für Sie. Aber ein großer Schritt für die Menschheit.

Mit hoffnungsvollen Grüßen aus München,
Julia Cortis

Foto © Sulayman Gaye