Wie eine Deutsch-Britin die Brexit-Verhandlungen erlebt. Ein Beitrag des Interkulturellen Magazins am 25. Juni 2017, zum Nachhören auf der Seite von B5 aktuell.
Liebe Elisabeth, wir müssen reden.
Vor einem Jahr, am 23. Juni, war es in München ungewöhnlich warm: 32 Grad Celsius Höchstwerte. In der Nacht kühlte es kaum ab, und am nächsten Morgen ließ ich mich wie immer von den Nachrichten wecken. Das Abstimmungsergebnis wurde verkündet und mich traf unvorbereitet ein Schmerz, der mich komplett aus der Bahn warf. Ihr habt für den Brexit gestimmt. „Bye-bye Britain“. Am Tag darauf ganze 10 Seiten der SZ beherrscht vom Entsetzen, das sich breit gemacht hat – auch in meinem Kopf, und auch in meinem Herzen, im Herzen einer halben Engländerin, die sich immer so wohl gefühlt hat mit ihrer Halbherzigkeit. Und auf einmal, nach 48 Jahren, heule ich über England.
Mein Vater kam aus Portsmouth, und bei meiner Geburt im Jahr 1969 erhielt ich damit die britische Staatsangehörigkeit, aufgewachsen bin ich aber in Deutschland. Hier bin ich zur Schule gegangen, habe studiert, gearbeitet, meine Kinder bekommen und erzogen. Ich fühle mich als Bürgerin dieses Landes und als Deutsche. Ich scharre in jeder Supermarktschlange ungeduldig mit den Füßen, anstatt völlig gelassen anzustehen und höflich jeden vorzulassen, der weniger auf das Band zu legen hat als ich. Ein Freund sagte mir kürzlich, er kenne kaum einen Menschen, der deutscher sei als ich. Ob denn das „Brit-Gen“ vielleicht nur in meinem leicht fliehenden Kinn stecken würde?
Dabei fühle ich mich mehr britisch als deutsch! Meine früheste Erinnerung ist der Geruch von Zigaretten gemischt mit Pfefferminzbonbons und der Wolle vom Tweed-Jacket meines Onkels Eric aus Woking, wie er da an einem nasskalten Dezembermorgen rauchend vor der Türe steht, nach dem Frühstück. Statt Grönemeyer und Lindenberg gehen mir die alten englischen Lieder aus dem Parlour Song Book unter die Haut, die mein Vater am Klavier spielte: „Beautiful dreamer“ und „Last rose of summer“. Mein Vater hat mir auch das Singen beigebracht und mir vorgelebt, wie heilsam es sein kann, in den schwierigsten Momenten im Leben immer noch einen Witz zu reißen. Ich kann über Monthy Python lachen, aber nicht über Otto.
Ich erinnere mich, wie ich „very british“ mit dunkelblauen Schuhen aus London, Kniestrümpfen und Faltenrock in einem Münchner Vorort eingeschult wurde. Der erste Moment des peinlichen Andersseins war schnell überbrückt: die Susi kam aus Perlach, und ich kam aus England. Das klang irgendwie gut.
Viel wichtiger noch war die Sprache, die über die Jahre immer mehr zur zweiten eigenen wurde. Als junge Frau hätte ich mich entscheiden müssen, ob ich die deutsche Staatsbürgerschaft annehme oder die britische behalten will. Aber da ich mich der englischen Seite in mir immer ein wenig näher fühlte als der deutschen, wurde die Entscheidung immer wieder vertagt. Heute bin ich immer noch Britin, obwohl ich seit 2014 die doppelte Staatsbürgerschaft haben könnte.
Du siehst, Elisabeth, so nah war mir England.
Jetzt sitze ich hier vor meinen sechs englischen Pässen, die sich im Laufe von 48 Jahren angesammelt haben. Alle tragen dein Wappen in Gold, den Royal Coat of Arms. Im Zentrum der geviertelte Schild mit den Symbolen von England, Schottland und Irland. Links davon der gekrönte goldene Löwe, rechts das schottische Einhorn, angekettet – das Tier könnte schließlich gefährlich werden. Schon da blitzt euer Humor durch…
„Her Britannic Majesty’s Secretary of State Requests and requires in the Name of Her Majesty all those whom it may concern to allow the bearer to pass freely without let or hindrance, and to afford the bearer such assistance and protection as may be necessary.“
In jeder Umschlaginnenseite wird mir mit königlicher Schrift die Zugehörigkeit zu einer Nation versichert, die dafür sorgt, dass ich in 174 von 196 Ländern freies Geleit bekomme und den Schutz und die Unterstützung des Gastlandes genießen möge, falls dies nötig sei.
Allein dieser Satz gab mir ein Leben lang das Gefühl, dass ich gut bei dir aufgehoben bin, Elisabeth. Aber nun ist der Moment gekommen, wo mir das nicht mehr genügt und ich merke, dass meine identitätsstiftenden Momente auf einem biographischen Sockel stehen, der mit meiner Lebenswirklichkeit nicht viel zu tun hat. Denn dass mich die Nachricht vom Brexit so trifft, kann nur heißen: ich bin weder britisch noch deutsch, ich bin Europäerin. Und bin fassungslos, dass Britishness nicht mehr für Weltoffenheit und Pragmatismus stehen soll, sondern für nationalen Separatismus. Ausgerechnet das Land der Kulturenvielfalt mit seinem Vorzeige-melting pot London!
War es nicht ein Brite, der die europäische Idee nach dem zweiten Weltkrieg befeuerte? „Hier – in Europa – liegt der Ursprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit. Wäre jemals ein vereintes Europa imstande, sich das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße.“ Die Idee deines ersten Premierministers Winston Churchill war gut, erinnerst du dich? Die Umsetzung hat vielleicht über die Jahre gelitten, aber daran lässt sich doch arbeiten.
Dennoch, Elisabeth, jetzt verhandelt ihr in Brüssel. Ich weiß nicht, was diese Scheidung bringen wird. Deine Namensvetterin, die Chaos-Queen May weiß selbst nicht, was auf sie zukommen wird, denn sie hat niemals auf eine der Fragen eine konkrete Antwort gegeben. Sie holt sich Unterstützung bei einer Partei, die Homosexualität und Schwangerschaftsabbruch als Sünde rigoros ablehnt. Keiner weiß, ob es einen harten oder einen weichen Brexit geben wird. Und wenn du ehrlich bist, verstehen das deine Untertanen auch alles nicht. Kannst du das denen mal erklären? Dass sie nicht wie die Schweizer oder Norweger am Binnenmarkt teilnehmen können und Reisefreiheit genießen, sondern dass sie vielleicht von beidem abgeschnitten werden und eure Exporte, mit Zöllen belegt werden, die eurer Wirtschaft mehr schaden, als euch lieb sein kann? Keine Krankenschwester aus der EU will mehr in Großbritannien zum Arbeiten kommen, schon jetzt gehen die Zuwanderungszahlen im Pflegebereich im Vergleich zum Vorjahr um 96% zurück. 46 Schwestern kamen im April zum Arbeiten in das Vereinigte Königreich – im Juli letzten Jahres waren es noch dreizehnhundert!
Und was ist mit den Künstlern und Intellektuellen aus Europa, die bei euch leben? Wollt ihr wirklich einen Brain drain, wie ihn Martin Roth vom Victoria und Albert Museum London eingeleitet hat? Im vergangenen Jahr haben sich fast dreitausend Engländerinnen und Engländer in Deutschland einbürgern lassen, im Jahr davor waren es nur 600. Und ich mache das jetzt auch.
Liebe Elisabeth, eigentlich bewundere ich dich. Deine freundliche stoische Gelassenheit, die du ausstrahlst. Natürlich kannst du in deiner Rolle als Queen nicht offen deine Meinung sagen, auch nicht zum „Schrexit“.
Aber wie du da am 22. Juni zum 64. Mal im Unterhaus gesessen bist, Elisabeth, jetzt mit leicht vorgebeugtem Oberkörper in deinem leuchtend blauen Ascot-Outfit und den großen Blumen an der Hutkrempe, die Krone neben dir auf einem Kissen, und die Rede zur Parlamentseröffnung gehalten hast, die dir andere mit schwer trocknender Tinte auf Ziegenhaut geschrieben haben – schließlich soll das in 500 Jahren noch lesbar sein – ja, in diesen 9 Minuten habe ich mir gewünscht, du würdest nicht nur vorlesen, was deine Regierung plant.
Ich wünschte mir, du würdest deinen Leuten als ihre Monarchin deutlich sagen, dass nur ein „Miteinander“ und nicht Abschottung und Fremdenfeindlichkeit der Weg in die Zukunft sein kann – ob für 100 oder 500 Jahre. Und dass du so lange sprichst, bis dein Weckruf im Radio in die ganze Welt übertragen wird. Dazu würde ich dann morgens sehr gerne aufwachen.
Kind regards, von ganzem Herzen, deine Julia