In München kamen in den vergangenen zwei Jahren etwa 7000 alleinreisende, minderjährige Flüchtlinge an. Sie heißen Musa, Alieu, Ousman, Mohammad, Jemar, Anar oder Luis und kommen aus Westafrika oder Afghanistan, Eritrea oder Syrien. Viele reisten weiter an andere Orte, manche von ihnen zogen in Einrichtungen auf dem Land. Mit einer Gruppe von Münchner Geflüchteten sind wir inzwischen befreundet und haben ihre Entwicklung in unserer Stadt miterlebt, von Anfang an. Die zwei jungen Männer aus Gambia, von denen ich hier erzähle, sind inzwischen Teil unserer (Groß-)Familie geworden. Was haben sie bisher erlebt? Der nachfolgende Artikel erschien kürzlich in der Zeitschrift „Monte-Info“ für Eltern, Lehrer und Kinder aller Jahrgangsstufen der Montessori-Schule im Olympiapark. (Namen v. d. R. geändert)
Seit September 2015 besucht Joseph, der Ältere von beiden, die Vorklasse zum Berufsvorbereitungsjahr für junge Flüchtlinge, und er hat zum Halbjahr sein erstes Zeugnis mit richtigen Noten bekommen. In den Fächern Ethik, Deutsch als Zweitsprache, Mathematik, berufliche Orientierung und Fachpraxis Zweiradtechnik – so heißt die Fahrradbastelklasse – gab es die Note „gut“ und in den anderen – Sozialkunde, Sport, Datenverarbeitung und Fachpraxis Holztechnik – jeweils ein „sehr gut“. Seine Mitarbeit im Unterricht und der Umgang mit seinen Mitschülern wurde so lobend hervorgehoben, dass „einem weiteren positiven Schulverlauf nichts im Wege steht“, wie es heißt. Joseph ist jetzt volljährig. In seiner Pflege-Familie, die wir im Februar 2015 für ihn gefunden haben, hat er sich so gut eingelebt, dass er gerne weiterhin dort bleiben möchte. Wenn wir zusammen an den Wochenenden etwas unternehmen oder in den Ferien gemeinsam Urlaub auf dem Land machen, spürt man seine tief empfundene Dankbarkeit und Lebensfreude in allem, was er tut.
„Unser Jüngerer“, der gerade 18 Jahre alt wurde, lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft mit anderen Jugendlichen zusammen und wird zusätzlich von seiner Vormündin und Vertrauten betreut. Jammeh besucht die „Schlau“-Schule in München, die vom Trägerkreis Junge Flüchtlinge e. V. organisiert wird. Auch Jammeh ist sehr gut in der Schule; er kann vielleicht schon bald die Mittlere Reife machen. Beim „Schulanalogen Unterricht für junge Flüchtlinge“ werden insgesamt 300 Jugendliche in 20 Klassen unterrichtet. Auf dem Lehrplan beider Schulen steht verpflichtend mindestens ein Praktikum pro Jahr, und unsere beiden Freunde haben inzwischen mehrere Praktika in verschiedenen Betrieben absolviert. Es ist anstrengend für sie, denn sowohl das Lernen als auch die Arbeit in einem Elektrobetrieb, als Maurer auf einer Baustelle oder als Gartenbauer verlangen ihnen viel ab: da geht es nicht nur um die körperliche Arbeit und das frühe Aufstehen. Sie müssen in jeder neuen Situation, in jedem Betrieb wieder zeigen, dass sie lernen wollen und sich anpassen können: an Regeln, an Rituale, an Situationen. Das ist schon für uns und unsere Kinder in jedem Alter eine Herausforderung. Umso mehr für jemanden, der in einer völlig anderen Welt groß geworden ist.
Neben ihrer Geschichte, die sie wie schweres Gepäck mit sich tragen und die bei einigen eine erschütternde ist, sind es vor allem die kulturellen Unterschiede, die den Jugendlichen zu schaffen machen. Während der eine schon mit 12 Jahren jeden Morgen und jeden Abend Feuerholz sammelte, um sich einen Tee zu kochen oder eine Suppe, war der andere früh Vollwaise und muss nun – allein auf sich gestellt in einem fremden Land – versuchen, mit seiner Sehnsucht nach einer Familie umzugehen. Dazu kommen dann die vielen Regeln, die bei uns größtenteils mit Pünktlichkeit und Geboten verbunden sind. Und die Behördengänge, die trotzdem noch nicht mehr Sicherheit versprechen. Dennoch haben es die jungen Männer aus Westafrika in Europa etwas leichter als andere ihres Alters: denn die höchste Achtung innerhalb der Familie gebührt der Mutter, sie ist unantastbar und wird immer respektiert. Ein junger Erwachsener, der aus Afghanistan kommt, hat es da viel schwerer, weil er es nicht gewohnt ist, dass Frauen überhaupt sichtbar sind im Alltag. Und nahbar. Das erschwert natürlich auch eine gelungene Kontaktaufnahme zu jungen Münchnerinnen.
Die großen Hürden für „unsere Jungs“ sind also erst einmal genommen: die Ausbildung, die unsere beiden Schützlinge sehr ernst nehmen, und die momentane Sicherheit der Duldung. Denn bis die Asylanträge bewilligt sind, wird es wohl noch dauern. Aber bis dahin haben wir viel Spaß an der Bewältigung kultureller und sprachlicher Missverständnisse – denn auch die gibt es noch. Etwa bei der MVG: die Münchner Verkehrsgesellschaft, die sich vor allem dadurch auszeichnet, Menschen nichtdeutscher Muttersprache vor unlösbare Aufgaben zu stellen. Im Aufzug gibt es zwei Tasten: „S“ und „U“. Das „S“ steht für „Sperrengeschoss“. Was ist das? Oben oder unten? Und wie viele Streifen muss man stempeln, wenn man sich in einer Zone bewegt, die nicht mit der Schülermonatskarte abgedeckt ist? „Warum verbraucht ihr denn so viele Streifenkarten?“ frage ich Joseph und Jammeh. „Wir dachten, man muss bei jedem Umsteigen neu stempeln. Also rennen wir immer hoch und stempeln am Eingang zur U-Bahn noch einmal. Das ist manchmal sehr stressig, aber wir wollten auf keinen Fall „schwarz“ fahren!“ sagen die wirklich tiefschwarzen Jungen.
Sollte Sie also mal ein Jugendlicher beim Sprint auf der Rolltreppe anrempeln: seien Sie gnädig. Er läuft vermutlich nicht vor einer Fahrkartenkontrolle weg, sondern ihr hinterher.
Fotos: Julia Cortis (Ambach/Fahrstuhl im Hauptbahnhof München, Variation mit mindestens drei Unbekannten)
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