Wenn wir heute den Begriff „Waldmenschen“ hören, denken wir an verwaiste Kinder, sogenannte Wolfskinder, die im Urwalddschungel von einem Tier gefunden und großgezogen wurden. Oder an Geschichten von Vätern oder Müttern, die alleine mit ihrem Kind das Leben in der Wildnis dem der Zivilisation vorziehen.
Die Bilder, die dabei in unserem Kopf entstehen, entstammen meist unserer romantisierten Vorstellung von einem Leben in freier Natur und wir verdrücken eine Träne, wenn wir im Kino Rudyard Kiplings Mowgli mit seinen Freunden über die Leinwand tanzen sehen. Dass aber das bis heute unvorstellbare und doch so reale Grauen der millionenfachen Menschenvernichtung Adolf Hiters Verfolgte auf der Flucht vor SS und Wehrmacht in Wälder trieb, wo nur wenige das Glück hatten, zu überleben, ist ein Aspekt der Shoa, der aufgrund seiner Seltenheit kaum bekannt ist.
Die wunderbar fröhliche Tonia, eine Münchnerin, erzählte eines Tages bei einer Gesellschaft, sie hätte keinen Geburtsort. Sie sei in einer Höhle im Wald geboren. Die Eltern waren Juden, lebten in einem kleinen Dorf in der Ukraine, und wurden mit dem Überfall der Deutschen 1941 in ein Ghetto getrieben. Daraus gelang ihnen die Flucht im März 1942 und sie überlebten zweieinhalb Jahre und zwei lange, harte Winter bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Sommer 1944 in einer mit eigenen Händen gegrabenen Höhle im Wald. Diese unvorstellbare Geschichte ist berührend und erschütternd, sie zeugt von dem unbedingten Überlebenswillen von Menschen, die über lange Zeit tagtäglich vom Hunger- oder Kältetod bedroht sind, die ohne Tageslicht und Bewegungsfreiheit mehr vegetieren als leben. Aufgeschrieben hatte all dies Tonias ältere Schwester Dina, die in Israel lebt und ihre Familiengeschichte den in der ganzen Welt verstreuten Kindern und Enkelkindern zukommen lassen wollte. Glücklicherweise war an jenem Abend in München auch die Vorsitzende des Vereins zur Förderung jüdischer Geschichte und Kultur, Ilse Ruth Snopkowski, anwesend, die umgehend dafür sorgte, dass „Versteckt unter der Erde. Die Überlebensgeschichte der Familie Kasten“ ins Deutsche übersetzt und hier herausgegeben wird.
Zum Holocaust in der Ukraine hat die Politikwissenschaftlerin Ilse Macek geforscht. Mit ihrer wissenschaftlichen Unterstützung konnte ich den engagierten Lehrern und etwa 120 Schülerinnen von Realschule und Gymnasium St. Ursula in Lenggries im Schloss Hohenburg von der Überlebensgeschichte der Familie Kasten im Kontext der Judenverfolgung in der Ukraine erzählen. Offen haben wir über nationalistische Tendenzen in der heutigen Gesellschaft gesprochen, die in der Ausgrenzung von Gruppen oder Ethnien beginnen, ebenso über die nationalsozialistische Ideologie und schließlich die persönliche Betroffenheit der Mädchen nach dem Gehörten. Auf die Frage, wie das Ehepaar mit seinen Kindern in der Höhle überleben konnte, gibt es zwei Antworten: zum einen waren es andere Menschen, die ihnen im Moment allergrößter Verzweiflung halfen und für ihr Überleben sorgten;
und zum anderen möchte ich Dina Dor zitieren, die im November 2016 in München anlässlich der deutschen Buchvorstellung zu mir sagte: „Meine Eltern waren mutig und wie aus Stahl. Für meine Geschwister und mich sind sie Helden. Sie haben uns bewiesen, dass man niemals die Hoffnung verlieren darf.“
Heutigen Schätzungen zufolge kamen zwischen 1941 und 1944 rund eineinhalb Millionen jüdische Menschen auf ukrainischem Boden zu Tode. Etwa 400 Juden versteckten sich damals im Witan-Wald nahe des Ortes Bukaczowce. Nur 30 von ihnen überlebten. Die Familie Kasten gehörte dazu.
Mit Dank an die Schulleitungen und an Christian Martino für die Einladung an das St-Ursula-Gymnasium Lenggries und die St.-Ursula-Realschule.