Claude Lanzmann und die Stolpersteine

Statements zum Fest des „Stolpersteine e.V.“ im Jüdischen Museum München am 20. Juni 2018

Ich bin keine Jüdin. In meiner Verwandtschaft wurde – soviel ich weiß – niemand aufgrund seiner Religion oder seiner Herkunft verfolgt. Mein Vater stammt von der englischen Südküste, meine britischen Vorfahren arbeiteten in der Werft als Schreiner, als der zweite Weltkrieg ausbrach. Mein deutscher Großvater hatte auch nichts zu befürchten: er hatte im ersten Weltkrieg als Infanterist gekämpft und war später Landwirtschaftsrat und ein berühmter Spezialist für Obst- und Gartenbau, insbesondere für Apfelbäume. Ein angesehener Mann soll er gewesen sein, bei seiner Beerdigung im September 1950 in Biburg konnte man das sehen. Er starb mit 58 Jahren, weil er sich bei einer Schlägerei auf dem Oktoberfest eingemischt hatte – er stürzte und kam dabei ums Leben, Genickbruch. Wie er sich zu Hitlers Zeiten fühlte, kann ich also nicht wirklich sagen.
Aber gerade weil ich meine Großeltern auf beiden Seiten nie kennen gelernt habe, weil ich sie nicht fragen kann, will ich mehr wissen; ich will wissen, was an Ort und Stelle, mitten in München, geschehen ist mit unseren jüdischen Nachbarn. Ich will wissen, wo Menschen gelebt haben, die als Kommunisten oder als Homosexuelle oder als Angehörige der Sinti und Roma abgeholt, verschleppt, interniert und ermordet wurden. Ich will meinem Sohn und seinen Freunden immer wieder eine kleine Geschichtsstunde geben, wie ich es in anderen Städten in Deutschland und Europa jederzeit tun kann, jedesmal, wenn ich wieder stolpere. Ich will auch wissen, was mit den Menschen meiner Stadt geschehen ist, ohne mich dabei am Kampf um die „Erinnerungshoheit“ zu beteiligen, der hier in München ausgetragen wird und der mich sehr befremdet.
Die Stimme meines britischen Vaters konnten Besucher der KZ-Gedenkstätte Dachau jahrzehntelang in der Ausstellung hören. Er hatte den englischen Kommentar gesprochen. Meine Stimme hören Sie heute, weil ich eine von vielen Befürwortern der Stolpersteine auch für München bin, und weil ich Grund zur Annahme habe, dass die Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus in den vergangenen Jahren – hier und andernorts – nicht weit genug ging. Gestern erst sah ich das Bild eines kleinen Kindes, eines Jungen, etwa 6 Jahre alt, der abgeführt wurde mit einer Nummer auf den kurzen Ärmeln seines T-Shirts und einer gut sichtbaren vorne auf der Brust. Es war ein mexikanisches Kind an der Grenze zu den USA. Das erschüttert mich.

Hören Sie nun die Stimmen bedeutender Zeitgenossen: zunächst die von Hans Arnold, er ist der Sohn des Simplicissimus-Karikaturisten Karl Arnold, der in München eine prägende Figur der Münchner bzw Maxvorstädter Bohème war und zwischen 1907 und 1942 über 1800 satirische Zeichnungen in der Zeitschrift veröffentlichte. Sein Sohn Hans, Jahrgang 1923, nahm von 1941 bis 1945 als Soldat der Luftwaffen-Nachrichtentruppe mit letztem Dienstgrad Obergefreiter am 2. Weltkrieg teil und ging nach seinem Studium in München, Paris und Georgetown in den Diplomatischen Auswärtigen Dienst. Von 1972 bis 1977 leitete er die Abteilung für Auswärtige Kulturpolitik und war Vertreter der Bundesregierung in der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission für die Reform der Auswärtigen Kulturpolitik.
Seit 1987 ist Karl Arnold im Ruhestand und nimmt seit 2013 ehrenamtlich an Zeitzeugengesprächen im Rahmen des Projektes „Erzähl mal“ des Münchener Schülerbüro e.V., teil. Hans Arnold schreibt:

Das Thema ist nicht neu. Vor etwa 15 Jahren habe ich in New Orleans das dort im Jahre 2000 gegründete und durch den US-Senat autorisierte „National World War II Museum“ besucht. Es war in New Orleans gegründet worden, weil dort im Zweiten Weltkrieg die für die Invasion in Europa verwendeten Landungsboote entworfen und hergestellt worden waren. Das Museum war an einem 6. Juni eröffnet worden, dem Jahrestag der Landung in der Normandie.
Inzwischen ist das Museum m. W. beträchtlich erweitert worden. Damals bestand es aus nur zwei Gebäuden, in denen hervorragend gestaltete Erinnerungsmuseen über den Kampf der USA im Zweiten Weltkrieg zum einen in Europa und zum anderen im Pazifik untergebracht waren. Zwischen den Gebäuden und als Verbindung zwischen ihnen lag ein riesiger freier Platz. Er war ganz mit rechteckigen weißen Fliesen gepflastert, deren jede den Namen, die Daten und den Todesort eines im Zweiten Weltkrieg gefallenen Amerikaners enthielt. Ich glaube mich zu erinnern, dass mir gesagt worden ist, dass auf diesem Platz jeder im Zweiten Weltkrieg gefallene Amerikaner genannt ist.
Ich habe mich damals eine gute halbe Stunde oder noch etwas länger am Rande des Platzes aufgehalten. Denn es bot sich mir Eindrucksvolles. Besucher, die gerade noch aus einem der Häuser herausgeschlendert waren, hielten plötzlich inne, blickten nach unten, blieben stehen, gingen langsam weiter, aber keineswegs nur in Richtung des anderen Hauses, immer wieder stehen bleibend und nach unten blickend. Von zwei Gruppen, die ich beobachtete, gingen die Mitglieder aus den Gruppen heraus weiter, blickten nach unten, winkten andere Gruppenmitglieder zu sich, man deutete gemeinsam nach unten und sprach miteinander, auch noch im Weitergehen. Es war unübersehbar, dass auf diesem Platz den Besuchern ein intensives Erinnerungserlebnis vermittelt wurde – an das ich mich sofort erinnert habe, als mir das System „Stolpersteine“ bekannt wurde.
Die Diskussionen und Auseinandersetzungen über das Münchner Verbot von „Stolpersteinen“ habe ich nicht im einzelnen verfolgt. Wenn ich sie aber richtig verstanden habe, wird das Verbot vor allem damit begründet, dass man nicht auf die Namen der Verstorbenen und damit letztlich indirekt auf die Verstorbenen treten dürfe. Ein für mich eigenartiger Gedanke, da ich in meinem nicht gerade kurzen Leben (Jg. 1923) an vielen Orten im In- und Ausland über unzählige Bodenplatten gegangen bin, mit denen besonderer Ereignisse und/oder Personen gedacht wurde. Selbst in München bin ich an anderem Ort über Bodenplatten gegangen, mit denen an Opfer des Nazismus erinnert wird, ohne dass es irgendwelche Probleme oder Reaktionen gegeben hätte. Und bei meinen häufigen Besuchen in Köln und Hamburg, in denen es viele „Stolpersteine“ gibt, habe ich nie Kritisches über diese Erinnerungsform gehört. Auch als geborener Bayer bin ich überrascht. Denn in Bayern werden bekanntlich die Namen der Herrscher, die in der langen Phase der Adelsherrschaft das Land geführt haben, nach wie vor in Ehren gehalten. Aber niemand hat sich m. W. bisher daran gestoßen, dass man in älteren Kirchen des Landes und nicht zuletzt auch hier in München auf in den Boden des Kirchenschiffs eingelassenen Grab- oder Erinnerungsplatten auf die Namen dieser Bayern tritt.
Generell dürfte sich wohl auch die Frage stellen, inwieweit das Verbot von „Stolpersteinen“ noch im Rahmen der deutschen Erinnerungskultur mit Bezug auf den Nazismus liegt. Denn zu ihr gehört bekanntlich und aus gutem Grund auch der erinnernde Erhalt der Identität der Opfer durch Erhalt ihres Namens, wie u. a. etwa durch Namensnennungen an Gedenkorten, Namenslesungen in Veranstaltungen usw. Denn schwindet die Erinnerung an die Namen der Opfer, dann schwindet die Erinnerung an das nazistische Grauen. Ich weiß nicht im Einzelnen, welche Verfahren in München an Stelle von „Stolpersteinen“ zulässig sind. Eindeutig ist aber, dass im öffentlichen Raum der Boden ausscheidet. Es kann dort also bestenfalls nur (Haus-)Wand oder ähnliches zur Verfügung stehen. Man braucht kein Werbefachmann zu sein, um zu erkennen, dass die Aufmerksamkeit von Passanten durch ein (bisher eher ungewöhnliches) Signal vom Boden her leichter und stärker geweckt wird, als durch eine der vielen von Wänden gesendeten üblichen Mitteilungen und vor allem Werbungen. Nicht ohne Grund kann man seit einiger Zeit auch auf Werbetexte stoßen, die von einem Haus aus mit Licht auf den Gehweg projiziert werden. Also werden auch Namen von Opfern des Nazismus von einer Wand her schwächer als vom Boden her wahrgenommen. Der Verzicht auf Stolpersteine ist ein Verzicht auf eine verstärkte Möglichkeit des Erinnerns an den Nazismus und sein Grauen. Ich muss gestehen: Es betrübt mich, dass dies ausgerechnet in meiner Geburtsstadt München geschieht, die in meiner Kindheit und Jugend von den Nazis „Hauptstadt der Bewegung“ genannt wurde.
Ich halte das Münchner Verbot von „Stolpersteinen“ für einen Irrtum.

Hören wir jetzt die Stimme von Steven Bechhofer, Anwalt und Lehrbeauftragter an der Juristischen Fakultät in München. Er möchte gerne einen Stolperstein für seine Tante verlegen lassen, für Rosa Bechhofer, die nach Ausschwitz verschleppt und dort ermordet wurde. Mit drei Jahren wurde die Tochter Susi von der Mutter getrennt und kam, gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester, im Rahmen der Kindertransporte nach England, wo sie heute noch lebt. Für Ihre Mutter, schreibt Steven, hat es kein Grab und keinen Ort gegeben, wo Susi die Trauer, die sie seit Jahrzehnten in sich trägt, zum Ausdruck bringen kann. Er sagt:

Die Stolpersteine geben Halt – in mehrerlei Hinsicht. Halt für jeden, um Inne zu halten und über die Menschen nachzudenken, dessen Namen darauf stehen.
Sie geben Halt, um Fragen nach dem Schicksal dieser Menschen zu stellen – Fragen, die teilweise nach Antworten schreien und vielleicht niemals eine Antwort erhalten.
Sie geben aber auch Halt für alle Freunde, Bekannte und Verwandte, die ein Ort des Erinnerns brauchen, um zu Gedenken.
Sie geben Halt für all die Menschen, vor allem aus nachfolgenden Generationen, die entschlossen sind, das Leiden mit einem menschlichen Antlitz und Gesicht zu verbinden.
Schließlich geben sie Halt für alle Menschen, die aus der Vergangenheit Lehren ziehen wollen – Lehren, die uns erst erlauben, eine Zukunft frei von Verfolgung und Vertreibung uns vorzustellen.
Die Stolpersteine sind damit Haltestellen der Freiheit.
Ich danke allen Freunden/Bürgern und Mitmenschen, die sich dafür einsetzen, diese Haltestellen der Freiheit zu schaffen, zu erhalten und an deren Verbreitung mitzuwirken.

Und die letzte Stimme gebührt Claude Lanzmann – sein bekanntestes Werk ist der neunstündige Dokumentarfilm Shoah aus dem Jahr 1985, mit seiner damals überraschenden Technik, ausschließlich Zeitzeugen zu interviewen und durch das Erzählte die Erinnerung an den Holocaust greifbar werden zu lassen, ohne Archivbilder oder anderes Material. Der vielfach ausgezeichnete Claude Lanzmann hat im Film auch Täter des Holocausts interviewt.
Als Enkel jüdischer Immigranten aus Osteuropa war er selbst in der französischen Résistance aktiv, 18jährig. Claude Lanzmann:

As long as the Stolpersteine gleam unimpeded in Europe’s sidewalks, I know that we are still safe from those wishing to kill us – and to destroy what is good in humanity.

Solange die Stolpersteine auf den Bürgersteigen Europas unbehindert golden glänzen weiß ich, dass wir immer noch sicher sind vor denen, die uns umbringen wollen – und die danach trachten, das Gute in der Menschheit zu zerstören. (Übersetzung: J. Cortis)

(Anm.: Claude Lanzmann ist 15 Tage nach Verlesen dieses schriftlichen Statements gestorben, am 5. Juli 2018.)

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