Ein Karfreitag in Lochham

Die Sterbestunde Jesu, das ist die neunte Stunde des Tages nach alter Zählung. Also in Mitteleuropa um 3 Uhr nachmittags. Am Karfreitag um 3 Uhr nachmittags geht Erwin mit seinem Einkaufswagen auf Rädern in Lochham bei München unter der S-Bahnbrücke durch. Es ist kalt und grau, es nieselt, ein unwirscher Tag. Gar nicht frühlingshaft, wie man sich das erhofft hat. Wer nicht unbedingt raus muss, bleibt heute lieber zuhause.

Erwin geht etwas gebückt, aber wie ein 85jähriger sieht er eigentlich nicht aus. Zäh und drahtig wirkt er, ganz offenbar ist er ein „Einheimischer“, mit seinen Haferlschuhen und den Wollsocken. Er grantelt ein bisserl vor sich hin, die Augen immer auf den Meter Boden vor ihm geheftet, die rechte Hand umklammert den Trolley. Der hat auch schon bessere Tage gesehen. Vor kurzem ist Erwin auf der Treppe gestürzt, da ist ihm der Wagen ausgekommen und der Handlauf ist gebrochen. Aber als ehemaliger Metallarbeiter scheißt sich der Erwin nix (so sagt man hier in Bayern) und flickt ihn mit blauem Hansaplast.

Entschlossen steuert er jetzt die Klotür im S-Bahnhof an. Pieseln muss er noch dringend, bevor er in die Stadt fährt mit der S6. Vielleicht findet er ja heute ein paar mehr Flaschen als gestern, schließlich kostet die Halbe Bier auch schon mehr als einen Euro. Danach geht’s mühsam die Treppe hoch, Schritt für Schritt. Oben angekommen, wundert er sich, ob wohl das Pflaster am Fuß hält. Da hat er schon seit Wochen einen Ausschlag, so eine runde, rote Stelle. Zum Arzt wollte er deshalb nicht, also gab’s heute früh mal ein Pflaster, damit der Socken nicht so reibt.

Aber heut ist irgend etwas anders als sonst. Er läuft, steuert mit seinem Wagen durch die Menschen, die auf die S-Bahn warten. Irgendwer spricht ihn an, aber er reagiert nicht. Der Fuß mit dem Pflaster ist auf einmal feucht. Erwin bleibt stehn, schaut runter, und sieht, dass er blutet. Zuckt mit den Schultern, grummelt etwas, geht wieder los. Nach ein paar Metern bleibt er wieder stehen. Er schaut zurück und sieht, wie sein Schuh blutige Spuren hinterlässt auf dem Bahnsteig. Jetzt blutet es nicht mehr. Nein, das Blut spritzt und quillt gleichtzeitig aus seinem Schuh, wie eine Fontäne vom Knöchel aus. Jemand schreit ihn an, er soll sich hinsetzen, er blutet, ob er das nicht sieht. Erwin will sich nicht hinsetzen, er will nichts hören, er versteht’s eh kaum, was sie sagt, die Frau. Jetzt spürt er plötzlich, wie er schwach wird. Er schreit sie an: „Ja mei, die Aorta is’ platzt!“

Gerade fährt die S-Bahn nach München ein, die einen steigen aus, andere steigen ein. Drei Menschen, nur drei, haben mitbekommen, was da gerade geschieht. Zwei von ihnen haben versucht, über ihre Mobiltelefone den Notarzt zu rufen. Bei keinem von beiden ist am anderen Ende der Leitung jemand ans Telefon gegangen.

Ein Glück, dass der Zugführer auf das Hämmern an die Seitenscheibe gleich reagiert. Er ruft den Notarzt und erzählt den Fahrgästen, dass sie jetzt einen Moment warten müssen, weil es einen unvorhergesehenen Einsatz am Bahnsteig gibt. Und bevor der nicht da ist, der Einsatz, darf die S-Bahn nicht weiterfahren.

In der Zwischenzeit hat Erwin eine Spur aus Blutlachen am Bahnsteig gelegt. Bis er sich endlich auf die Streusandkiste gesetzt hat. Und dann mit sanfter Gewalt auf den Rücken gelegt wurde. Gut gebettet auf den kräftigen Oberschenkeln eines Düsseldorfers, der gerade in München auf Zimmersuche ist. Und dann kommt der Moment, wo es allen durch den Kopf schießt: was jetzt zuerst? Bein hoch? Stabile Seitenlage? Abbinden, ja und wo? Zum Glück kommen jetzt ein paar Fahrgäste aus der S-Bahn, mal schaun, was so los ist. Endlich. Zwei junge Männer mit eindeutigem Migrationshintergrund sind die einzigen, die gleich sehen, was zu tun ist. Abbinden! Schnell!!

Der Schaffner kommt mit dem Verbandskasten und das Dreieckstuch ist zum Glück drin. Ein schlanker junger Mann, groß und kräftig, bindet Erwin das Bein an der Wade ab. Ein Seufzer der Erleichterung bei den anderen. Erwin lagert seinen Fuß nicht ohne milden Zwang durch Handauflegen seines lebendigen Untersitzers auf seinem umgelegten Trolley, der sich längst dunkelrot verfärbt hat. Dann gibt es auf einmal diesen einen Moment der Schwäche und Erwin wird richtig blass. Zum Glück hat die junge Frau was zu trinken zur Hand. Einen Tee in der Plastikflasche. Erwin murrt: „A Bier war ma lieber“ und lacht. Und überhaupt lacht er viel, der Erwin, der vorher kurz stumm auf seine Westentasche gezeigt hat, als man ihn nach seinem Namen fragte. Nach einer Weile wird ihm kalt am Boden und man schiebt ihm einen Zipfel der Wärmefolie, die der Zugführer gebracht hat, unter den Hintern. „Jetzt loss i an Schoaß und dann weads gscheit warm.“

Humor hat er. Aber das war erst der Anfang: bis endlich nach einer gefühlten Ewigkeit zwei Sanitäter am Bahnsteig eintreffen, lacht, scherzt und singt Erwin und erzählt aus seinem Leben. Von seinen vielen Berufen und seinem Jahr im Ausland – er war ein Jahr in Australien. Respekt.

Kurz hält er inne, mit einer Zornesfalte auf der Stirn schaut er nach oben in den Himmel und sagt: „Was machst’n du da mit mir? Ha? I wead so bös. So bös wead i. Was host’n dir dabei dacht?“

Und doch: Er wird nicht bös. Nein, Erwin singt im reinsten und schönsten Englisch alle Strophen von „I did it my way“. Die drei vom Bahnsteig schauen sich ungläubig an und sagen unisono: „Das ist jetzt nicht wahr, oder?“

Als die Sanitäter eintreffen, hat Erwin immer noch warme Hände. Er gestikuliert, singt, wird übermütig, lässt sich aber stabilisieren, versorgen, Blut abnehmen, Puls messen. Dann wird er mit vereinten Kräften auf die Bahre gehievt, zurück bleibt auf zwölf Quadratmetern ein Schlachtfeld aus burgunderfarbenem Blut, Mullbinden und sterilen Handschuhen. Im gleichen Moment bekommt der Düsseldorfer per sms eine Zusage für ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Das weiß er aber noch nicht, denn er wird erst in der S-Bahn die Nachricht lesen.

Im Leben geht’s wie im Sterben um Tod und Auferstehung. Gute Besserung, Erwin. Des wead scho.

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