Es war einmal. Ein Weihnachten 2016.

Eine Weihnachtsgeschichte schreiben, das war das Vorhaben. Doch das vergangene Jahr hat Spuren hinterlassen und Fragen aufgeworfen. Also schrieb ich, was mich Tag für Tag beschäftigte. Und widme heute diese Geschichte denen, die darin die Hauptrolle spielen. Und den Menschen in München und Tutzing, die mich nach Lesungen gebeten haben, sie zu veröffentlichen.

Jesus steigt vom Kreuz.

Kalt ist es hier in seiner Kirche. Die Kerzen sind längst abgebrannt, neblig wabert der Rauch der Christmette durch die Kirchenschiffe. Er dehnt, reckt und streckt sich und gewöhnt sich langsam an seine Körperlichkeit. Als er auf eine der Grabplatten am Boden von Sankt Peter seinen Fuß setzt, spürt er, wie die Wundmale wieder schmerzen. Tja, mit dem Alter wird es nicht leichter.

Auf einer Kirchenbank liegt eine schwarze Wollstola, wie praktisch. Jesus ist froh, dass er sich diesmal ein wenig wärmen kann auf seinem Gang durch die heilige Stadt. Er will, wie jedes Jahr an Weihnachten, zu seinem Matratzengeschäft „Concordia Europa“, wo er sich eine Nacht in der Horizontalen gönnt, sein ganz persönliches Weihnachtsgeschenk. Wenigstens einmal im Jahr in einem weichen Bett liegen hilft bei seiner Plackerei am Kruzifix. Gott ist zwar allmächtig und Jesus allwissend, aber bei Kreuzschmerzen hilft nur die gute Sanaa-Gold-Matratze.

Um diese Zeit ist der riesige Petersplatz schon leer und nur durch die Straßenlaternen spärlich erhellt. Zwischen den Säulen der Kollonaden kann man die Umrisse Obdachloser ausmachen, tief eingewickelt in Schlafsäcke, die Schuhe ordentlich aufgestellt am Fußende jedes Kokons.

„Ja Herrgott, ist denn mein irdischer Stellvertreter nicht in der Lage, die armen Wesen zu beherbergen?“ brummelt Jesus vor sich hin. Kilometerlange Gänge winden sich durch die Vatikanischen Museen, da ist doch genug Platz für alle! Franziskus hat zwei syrische Familien ausgeflogen und im Vatikan eingebürgert, aber was ist denn mit all den anderen? Der neue Papst hat zwar manchmal ein paar richtig gute Ideen, aber da muss noch mehr passieren.

In Jesus kriecht wieder die Wut hoch, wie so oft in den vergangenen Monaten. Was muss er sich in seiner Kirche alles anhören! Manchmal wünscht er sich, der Beichtstuhl stünde nicht so nah am Kreuz. Allen Sündern war im vergangenen Jahr nur eines gemeinsam: sie hatten Angst. Fast alle haben einen Job und eine Familie, die meisten sind gesund, haben genug zu Essen und ein Dach über dem Kopf in einer der schönsten Städte Europas, aber sie haben Angst. Und wissen selbst nicht, wovor. Jesus hat einen Verdacht, und der schmerzt: Diese Menschen würden seinen Eltern kein Zimmer, kein Bett und auch keinen Stall zum Übernachten anbieten. Aus Angst, sie müssten ihren Lebensstandard vielleicht senken. Es macht ihnen schwer zu schaffen. Eigentlich wollen sie nicht teilen. Mitleid ja, Handeln nein.

Sein Weg führt ihn zunächst zur Ponte Vittorio Emanuelle II. Er schwenkt seine Beine über die Brückenbrüstung, lässt sie kurz in der dunklen Nacht baumeln und sich schließlich auf das Wasser fallen. Dann läuft Jesus auf dem Tiber los, barfuß Richtung Südwesten. Die Wellen kitzeln ihn an der löchrigen Fußsohle.

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Am Lido di Ostia erhellt das Flutlicht vom Flughafen Fiumicino die spiegelnde Wasseroberfläche. Jesus tritt ans Ufer und freut sich auf seinen alljährlichen Plausch mit seinen Freunden, den Fischen, die ihm von den Neuigkeiten aus aller Welt berichten. Da kommt auch schon Toni, der Hecht angeschossen: „Hey, Jesus, wieder mal vom rechten Kreuzweg abgekommen?“ Toni ist berühmt für seine schlechten Wortspiele, aber Jesus lächelt nur, während sich immer mehr Fische um die beiden versammeln. „Na, wie ist die Lage bei euch?“ fragt er. „Der Tiber ist total sauber inzwischen, keiner fischt mehr im Trüben“, Toni grinst. „Aber draußen im Meer ist die Hölle los. Schlechte Stimmung.“ „Ja, ja, so isses,“ bestätigt Tümmlerdame Hilde lispelnd. Dreissig von ihren fast hundert Zähnen hat sie sich schon ausgebissen beim Fangnetz-Zerkauen. Hilde arbeitet für eine Fischorganisation, die Schleppnetze zerstört, Sea-Chew genannt. „Habt ihr auch so Orientierungsschwierigkeiten bei Sizilien?“ fragt sie die anderen. „Das Orange dieser vielen Schwimmwesten reflektiert so stark nach unten. Ich kenn mich gar nicht mehr aus!“ Da muss Jesus wieder an die schlafenden Flüchtlinge auf dem Petersplatz denken. Die haben es geschafft, andere wohl nicht. Nachdenklich setzt er sich an den Strand, massiert seine Füße und hört zu, wie sich die Meerestiere angeregt unterhalten.

Salvatore, der weiße Hai, hat dunkle Ringe um die Augen, tiefe Furchen durchziehen seine Stirn. „Leute, ich werde Vegetarier. Ich halt das nicht mehr aus. Ständig kommt da Essen vorbeigeschwommen – ich muss gar nix mehr tun. Aber ich kann das nicht. Mir hat es den Appetit verdorben.“ „Habt ihr schon von dem Jungen gehört, der mit seinem Vater in Aleppo eine Rosenzucht hat?“, fragt Pottwal Paolo. „Der Junge ist 13 und hilft seinem Vater jeden Tag, auf der steinigen kleinen Plantage die Blumen und Bäumchen zu bewässern. Die Rosen sind für die Menschen ein Symbol: durchhalten! Das Leben geht weiter.“ „Aber der Vater lebt doch nicht mehr“, mischt sich Magda, die Meerbrasse, ein. „Eine Bombe hat ihn getötet. Der Junge streift ganz allein durch die Trümmer der Plantage und weiß nicht, wohin.“ Jesus schüttelt den Kopf. Was für eine traurige Geschichte. Paolo erzählt: „Gestern habe ich am Meeresboden vor Agrigento ein kleines Mädchen getroffen. Sie wünscht sich, dass zu Weihnachten wieder Essen in die Stadt kommt und die Kinder miteinander spielen können.“

Jetzt reicht es Jesus. „Paolo“, sagt er zum Pottwal. „Bring mich nach Syrien. Und ihr anderen …“ wendet er sich an die Fische und auch ein paar Möwen, die sich zu ihnen gesellt hatten, „sagt es weiter: Wir sammeln Essen. Für Aleppo.“ Er steigt vom Ufer aus mit einem Schritt in Paolos weit geöffneten Kiefer, stellt sich auf die Zunge des Wals und hält sich an einem Zahn fest. Und so schwimmen sie los, hinaus aufs offene Mittelmeer, begleitet von hundert weiteren Fischen und Meeressäugern. Das thyrrenische Meer schäumt und sprudelt, die schmale Mondsichel leuchtet schwach auf die letzten Wirbel von Schwanzflosse neben Schwanzflosse, dann glättet sich das Wasser wieder.

Auf der Straße von Sizilien tummeln sich bald schon Delphine, die Olivenfässer mit ihren Nasen vor sich herschieben, Pottwale mit Obstkisten auf dem Rücken, Flundern, die Konservendosen durchs Meer balancieren – es freut Jesus, wie schnell sich der Weihnachtswunsch des Mädchens herumgesprochen hat und immer mehr Getier mit Essbarem sich seiner Reisegesellschaft anschließt. Harry, ein Hammerhai, spornt alle an: „Schneller! Wir müssen noch vor Sonnenaufgang in Aleppo sein!“

Als sie bei Latakia die Küste Syriens erreichen, werden sie schon erwartet von einer langen Reihe von Katzen, Hunden, Kamelen und Eseln. „Wir sind nicht mehr viele“, erklärt Momo, eine Perserkatze aus Teheran, „aber wir schaffen das. Wir freuen uns, wenn wir helfen können.“ Schnell ist das Essen umgeladen und Jesus schaukelt auf einem Dromedar landeinwärts. Und noch bevor sich die ersten Sonnenstrahlen einen Weg bahnen durch den Mörtelstaub, erreicht die Karawane die zweite Hauptstadt der islamischen Kultur. Ein strenger Geruch liegt in der Luft, ein Geruch von Holzkohle, verbranntem Fleisch und Tod. Mäuse, Ratten, Pferde, Katzen und Hunde bleiben stehen, schnuppern. Hufe scharren, Schnurrbarthaare zittern.

Sonst ist es still. Nur in der Ferne das Geräusch eines kreisenden Helikopters, weit weg. Jesus steigt vom Esel, der ihn die letzten Kilometer getragen hatte, und schaut sich um. „Mein Gott. Vater, warum hast du sie verlassen?“ Das ist alles, was Jesus einfällt beim Anblick vom aschebedeckten Geröllhaufen, der sich vor ihnen auftürmt. Aber die Uhr tickt. Viel Zeit bleibt nicht mehr, um dem Mädchen seinen Weihnachtswunsch zu erfüllen. Vielleicht gibt es ihre Freunde noch? Und den Sohn vom Rosenzüchter? Die Tiere schwirren mit ihren Speisen in alle Winkel der Stadt, und Jesus sucht den Rosengarten.

Ganz nah an den Geräteschuppen gekuschelt sieht er den Jungen liegen. Er schläft noch. Von den Blumen ist nicht mehr viel übrig, nur an manchen Stellen blitzt ein wenig Gras zwischen den Steinen hervor. Jesus erschrickt, als er eine vertraute Stimme hört – unangenehm vertraut ist sie ihm. „Ach, da schau an, hoher Besuch!“ Mit seinem verdreckten weißen T-Shirt, den Jeans und den ausgeleierten Turnschuhen hätte Jesus ihn beinahe nicht erkannt. Der Teufel ist es, er hat sich gerade des Jungen annehmen wollen, als er Jesus bemerkt.

„Du hier? Bisserl spät, oder? Die Immobilie Aleppo ist leider schon vergeben, sorry“. Kaum gesagt, wendet sich der Teufel wieder ab und legt seine Hand auf die Stirn des Jungen. „Im Schlaf soll er sterben, dann geht’s leichter.“ „Was machst’n Du da? Lass doch das Kind leben!“ „Weißt du, Jesus, wenn einem das Herz so gebrochen ist, dann hilft ein funktionierender Körper auch nicht viel,“ erklärt ihm der Teufel. Für einen kurzen Moment schauen sich Jesus und der Teufel in die Augen, dann lässt der Teufel ab vom Jungen und setzt sich neben Jesus auf einen verkohlten Baumstumpf. Er seufzt. „Deinen Job hätte ich gern! Tagein tagaus hängst du da rum, schaust dir die Leut’ an, wirst angehimmelt und angesungen“, grunzt er. „Das ist doch echt bequem, oder? Und ich steh knietief im Dreck von den anderen. Das nervt.“ Jesus runzelt die Stirn. „Du vergisst dabei, dass es mein Job ist, den Menschen diese ganze positive Energie aufzuschwatzen. Da muss ständig was rüberkommen“, erklärt er. „Aber was es hilft, kann ich dir nicht sagen. Gütig schau ich auf meine Herde, aber wie schaut die in die Welt? Manchmal denke ich, die haben ihre Aufgabe im Leben komplett missverstanden. Und ich bin der Letzte, der daran was ändern kann.“ Resigniert sitzen der Teufel und Jesus nebeneinander auf dem Stamm. Beide schauen auf den schlafenden Jungen.

„Wir können ja tauschen“, schlägt Jesus plötzlich vor. Bedächtig nimmt der Teufel zwei Prisen Schnupftabak – den extra scharfen. „Wie meinst‘n jetzt des?“ Jesus seufzt. „Na, ich mach hier weiter und du gehst zurück nach Rom. Da kannst du dich ausruhen.“ Der Teufel kratzt sich am Kopf. „Und du meinst, das merkt keiner, wenn der Teufel am Kreuz hängt?“ Sie schauen sich an. Jesus schüttelt den Kopf. „Das merkt keiner.“ Die Augen des Teufels blitzen kurz auf. Dann tauschen sie in Windeseile die Kleidung, der Teufel nimmt den schlafenden Jungen huckepack und ist weg.

Etwas Warmes reibt sich an Jesus Bein. Die Perserkatze Momo ist zurück. „Wir haben alles verteilt, Chef“, sagt sie. „Aber es ist keiner mehr da.“ „Keiner? In der ganzen Stadt? Das kann nicht sein. Lass uns suchen“.

Von der einst strahlenden Metropole ist nichts mehr übrig. Sie wandern auf einem unendlich weiten Meer aus Steinen, Schutt und Asche. Überall spiegelt sich in der aufgehenden Morgensonne Metall von zerborstenen Fensterrahmen und zersplittertes Glas. Die Häuser starren sie aus schwarzen löchrigen Fensteraugen ausdruckslos an. Manches Dach wird nur noch von zwei Wänden gehalten. Zerstörte Moscheen, Wohnhäuser, Geschäfte, Kirchen, Treppen. Die einst prächtigen Palmen sind versengt und säumen keine Prachtstraßen mehr.

Gottes Sohn wird von Schritt zu Schritt wütender. Er, der sich seine Leidensruhe hat auf Ewigkeit patentieren lassen, läuft nun schneller und immer schneller, und mit jedem Schritt wandelt sich der schmerzvolle Anblick zu ohnmächtigem Zorn. Jesus verliert die Fassung. Mitten im Lauf hält er inne, breitet die Arme aus und brüllt aus der ganzen Kraft seiner göttlichen Existenz heraus: „Herrgott! Bin ich denn nicht die Auferstehung und das Leben?“ Keiner antwortet ihm.

Und so gehen ein zorniger Sohn Gottes und eine Katze mit Migrationshintergrund durch die staubigen Straßen Aleppos und schauen sich das Elend der Welt an. Das Ende der Welt. Sie erreichen die Straße, in der das Mädchen wohnte. Man hört nichts. Keinen Laut. Ihr Haus steht noch – als einziges. Die Fensterscheiben sind zersprungen, aber die rote Türe ist noch unversehrt. Jesus drückt die Klinke herunter und öffnet sie weit. Hinter der Hausmauer klafft ein riesiges Loch. Es ist so groß, dass man meinen könnte, jemand wollte einen Baggersee ausheben. Ein Baggersee ohne Wasser, dafür voller Geröll und Glas, Bücher, Sessel, Teppiche und Schränke, Betten, Tische, Lampen und Geschirr, Töpfe, Pfannen und Badewannen.

Von irgendwoher kommen aufgeregte, aufgebrachte Stimmen. Als Jesus vorsichtig in den Krater hinunterklettert, sieht er im großen Durcheinander mehrere Menschen um einen Tisch sitzen, die wild gestikulieren und sich wüste Beschimpfungen an den Kopf werfen. In ihren Händen halten sie Spielkarten, um sie herum liegt haufenweise Papier. Es sind zwei Dutzend Abgesandte der Vereinten Nationen, unter ihnen die Diktatoren von Russland und der Türkei, außerdem Menschenrechtsbeauftragte aus aller Welt, ein paar Blauhelme, Waffenhändler und zahllose Schnapsflaschen. Sie pokern um Aleppo.

„Ha! Falsch ausgefüllt! Zählt nicht!“ schreit plötzlich der türkische Diktator und rülpst. Er hat eines der weißen Blätter in der Hand, die überall verstreut liegen. Da keiner von Jesus Notiz nimmt, bückt er sich, nimmt ein Blatt und liest: „Vielen Dank, dass Sie unterzeichnet haben. Sie sind Stimme 87.392. Wir benötigen noch 12.608 zur 100tausender-Marke. Teilen Sie diese Petition mit ihren Freunden auf Facebook.“ Und auf der Rückseite: „Herr Außenminister, richten Sie umgehend einen Luftkorridor für die Bevölkerung im Osten Aleppos ein – wahlweise – beenden Sie diesen Krieg. Nur ein Kreuz ist zulässig.“

Als Jesus hochblickt, klettert gerade ein verlorenes Kälbchen über die Steine auf die Gruppe zu. Es hat ein ganz goldenes Fell. Jeder will es streicheln, die Streithähne stehen sogar auf und tanzen einmal im Kreis um das liebe Tier, aber der Schwindel der Trunkenheit zwingt sie auf die Stühle zurück. Dann geht das Pokern um Aleppo in die nächste Runde. Jesus hält es hier nicht, er folgt der Spur der weißen Blätter und steht vor einer weiteren, einer weißen Tür. Er öffnet sie vorsichtig und sieht eine Gruppe alter Männer. Der Prophet Mohammed, Moses vom Sinai, der jesidische Engel Pfau und sein Scheich Adi, ein Unsichtbarer von der geheimen Religion der Drusen, außerdem Imame und Kalifen aus den Religionen der Alawiten und vier sunnitische Rechtsgelehrte sitzen an einem niedrigen Tisch und streiten, welche Auslegung des Islam die friedfertigste ist. Moses, der Schiedsrichter, erkennt Jesus: „Schön, dich hier zu sehen, Bruder. Setz dich, ich schenk dir reinen Wein ein.“ Aber Jesus lehnt ab. „Hast du irgendwo unseren Vater gesehen?“ fragt er Moses, aber der ist schon wieder mitten in der Debatte, zeigt nur noch auf eine Tür am Ende des Raums. Aus dem Türschlitz quillen Zettel.

Jesus betritt einen düsteren Hof: in der Mitte ein Berg von Papier, obenauf sitzen drei Männer, zwischen ihnen steht ein Faxgerät, das eine Petition nach der anderen ausspuckt. Jesus räuspert sich. „Entschuldigung, die Herren. Haben Sie vielleicht meinen Vater gesehen?“ Ungläubig schauen Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Immanuel Kant über den Rand ihrer Lesebrillen. „Gott? Der ist tot!“ sagt Nietzsche und zeigt auf einen schwarzen Sarg hinter sich. Marx ergänzt noch: „.. und Kirche ist sowieso Opium für das Volk!“ „Quatsch! Online-Petitionen sind Opium für das Volk!“ ruft Kant. Fassungslos stützt sich Jesus an einer Säule ab. Seinen Vater hat es also auch erwischt.

In Rom frühstückt Franziskus gerade, als es zaghaft an seine Tür klopft. Es ist 6 Uhr früh. Wer klopfet an? Als er im Schlafrock die päpstliche Flügeltüre öffnet, steht da ein dürrer Jugendlicher, der streng nach Seetang und Salzwasser riecht, schlottert und friert. „Was kann ich für dich tun, mein Junge?“ „Ich suche meinen Vater!“ bricht es aus dem Kind heraus. Der Papst hält kurz inne, dann holt er einen Mantel, den er dem Jungen anzieht und führt ihn in den Turm der Winde, die vatikanische Sternwarte. Auf einen Knopfdruck öffnet sich summend die Kuppel. „Dann lass uns mal schauen, junger Mann“, sagt Franziskus. „Vielleicht finden wir ihn“. Der Junge aus dem Rosengarten und der Papst heben den Kopf und blicken in den Himmel.

Oh je. Wie soll man da jemanden finden! Es wuselt und wimmelt nur so von großen und kleinen Wesen aller Hautfarben, Größen und Breiten. Man kann kaum jemanden erkennen, so voll ist es. Verschleierte Frauen sitzen neben Männern mit winzigen dunkelhäutigen Säuglingen im Arm, seilhüpfende Mädchen spielen mit tattrigen Großvätern, Männer stehen in Grüppchen zusammen, in der Hand Gebetskettchen. Jugendliche hocken am Boden und starren in erleuchtete Bildschirme. Frauen putzen Kindern Nasen und Hintern ab.

Mitten in das Durcheinander tritt der Dirigent Kurt Masur. Schlagartig verstummen alle und sammeln sich im Halbkreis. Auf einmal ruft der Junge in der Sternwarte: „Da ist er, mein Vater!“ Er hat ihn in der Menge entdeckt. Neben dem Rosenzüchter steht der 10jährige, der in Dara einen Spruch an die Wand kritzelte und vom Regime dafür gefoltert wurde. Damit hatte alles begonnen – damals in Syrien.

Jetzt kommt auch die Band dazu: Roger Cicero, Prince, David Bowie und Leonard Cohen. Masur hebt den Taktstock. Leonard Cohen spielt das Intro auf der Gitarre, singt die ersten Zeilen, dann stimmt der Chor in den Refrain ein: „’Cause I know I don’t belong – Here in heaven“. Die All-Star Band 2016, die Toten aus Syrien und die tausenden Ertrunkenen vom Mittelmeer singen gemeinsam „Tears in Heaven“ von Eric Clapton. Dem Jungen vom Rosengarten laufen Tränen über die Wangen.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag wundert sich der Messdiener Camillo, warum im Petersdom permanent ein kühles Lüftchen weht. Es zieht. Er geht zum Opferstock unter dem Kreuz, steckt den Schlüssel ins Schloss und öffnet das Türchen. Wieder leer. Seltsam. Gestern war es auch schon leer. Das ist ungewöhnlich. Wo doch die Leute immer fleißig spenden und ihren Ablass für die Vergebung ihrer Sünden eintauschen. Camillo bekreuzigt sich und kniet kurz vor dem schmunzelnden Teufel am Kreuz, ohne auch nur einmal den Kopf zu heben. „Äh, entschuldigung, der Herr“, sagt die Studentin Rosanna. Sie finanziert ihr Medizin-Studium mit Putzjobs und hat gerade den Matratzen-Laden aufgesperrt. Da liegt ein leicht bekleideter Obdachloser und redet im Schlaf. „Brauchen Sie einen Arzt?“ Der Mann schreckt hoch. Einen Moment lang weiß er nicht, wo er ist. Ach, die gute Sanaa. „Gottseidank,“ murmelt er und reibt sich die Augen. „Es ist vorbei.“

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